Das persönlichkeitsspezifische Credo

Es ist nun weit über dreißig Jahre her, dass ich im Rahmen meines ersten Seelsorgekurses von meinem damaligen Supervisor Klaus Winkler, Professor für praktische Theologie und Psychoanalytiker, auf das von ihm selbst geprägte Wort vom „persönlichkeitsspezifischen Credo” (vgl. Klaus Winkler, Das persönlichkeitsspezifische Credo, in: Wege zum Menschen 34 (1982) 159 – 163, 162.) aufmerksam gemacht wurde. Das damit verbundene Konzept besagt, dass unsere Persönlichkeit und unser Glauben untrennbar zusammenhängen und dass es dies nicht zu bekämpfen, sondern produktiv anzunehmen gelte.

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Der Göttinger Barfüßeraltar zeigt die 12 Apostel und ordnet jedem von ihnen einen Teil des Apostolischen Glaubensbekenntnisss zu; Foto: Jean Louis Mazieres

Sein Beispiel, an das ich mich bis heute erinnere, war dies: Es gibt Menschen, die von ihrer Persönlichkeit her Freiheit lieben und die die Enge und das Gebundensein klarer Ordnungen und Strukturen fürchten. Und es gibt andere, bei denen das genau umgekehrt ist: Sie lieben die Geborgenheit,  Beständigkeit und vor allem klare Ordnung und fürchten sich vor der Ungewissheit, der Eigenverantwortung und den Unberechenbarkeiten der Freiheit. Weiterlesen

Freiheit in Zeiten von Corona

Freiheit ist für mich immer ein zentrales Anliegen gewesen und das Motto dieses Blog ist nicht umsonst „Zur Freiheit berufen“. Zugleich merke ich, dass ich mich – anders offensichtlich als andere – trotz aller Beschränkungen des öffentlichen Lebens zurzeit nicht besonders unfrei fühle.

Ich habe darüber nachgedacht, woran das eigentlich liegt. Und ich denke, der entscheidende Punkt ist der, dass ich zwar nicht jede Maßnahme zur Eindämmung der Coronapandemie als sinnvoll erlebe, dass ich aber bisher i.d.R. nicht den Eindruck habe, dass diese Maßnahmen gezielt genutzt werden, um Freiheitsrechte abzubauen oder Ziele Dritter zu erreichen. Und da, wo Maßnahmen drohen, überzogen zu werden, scheinen unsere demokratischen Schutzmechanismen ganz gut greifen: So wie durch Gerichtsurteile das Demonstrationsrecht unter nachvollziehbaren Auflagen immer wieder gestärkt wurde oder wie die parlamentarischen Beratungen in NRW ein übergriffiges Epidemiegesetz wesentlich abschwächen konnten.

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Der Autor mit Nasen-Mund-Schutz

Von daher stelle ich erst mal fest: Unsere Regierung hat gehandelt – und zwar in einer Weise, die nicht die unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen an erster Stelle stellt. Dass diese Maßnahmen massive Auswirkungen auf viele Menschen (und auch Unternehmen) haben, Auswirkungen, die wir im Einzelnen noch immer nicht abschätzen können, ist ebenfalls klar. Allerdings auch, dass diese Maßnahmen bisher in der Hinsicht erfolgreich waren, dass die Coronapandemie bis jetzt nicht dazu geführt hat, dass unser Gesundheitssystem überlastet wurde. Letzteres erscheint mir nach dem, was ich in anderen Länder gesehen habe, nicht als selbstverständlich. Und bei aller Skepsis gegenüber Zahlen im Einzelnen, so scheint mir doch ziemlich deutlich, dass die Erkrankungszahlen für Covid-19 in diesem Land zurzeit sich in einem überschaubaren Rahmen bewegen. Weiterlesen

Ein Votum für Selbstbestimmung

Zum Urteil des Bundesverfassungsgericht zum § 217 StGB

Es ist jetzt sechs Jahre her, dass ich mich in meinem Post „Das Augenmaß wahren”  ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt habe, ob eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs notwendig sei, um den Wert des Lebens in unserer Gesellschaft zu schützen. Schon damals kam ich zu der Überzeugung, dass dies nicht der Fall sei.

Nachdem nun das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 den § 217 StGB, der die geschäftsmäßige Förderung des Suizids unter Strafe stellte, für nichtig erklärt hat, sehe ich mich in meiner Einschätzung bestätigt.

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Der Bundesadler im Bundesverfassungsgericht, Foto: Hilarmont

Dabei habe ich mich allerdings schon gefragt, ob ich dem Gericht auch da folgen möchte, wo es  von einem „Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden” und  „hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen” (alle Zitate aus oben genannter Presseerklärung des Bundesverfassungsgerichtes) spricht. Doch bei genauem Nachdenken muss ich ihm Recht geben. Weiterlesen

Beratung statt Bevormundung: Stellungnahme der EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung zur Nichtinvasiven Pränataldiagnostik

Zurzeit wird vom Gemeinsamen Bundesausschuss geprüft, ob die Tests zur Nichtinvasiven Pränataldiagnostik (NIPD) in den Regelleistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden sollen. Dies hat eine kontroverse Diskussion ausgelöst.

Auf der einen Seite stehen Kritiker wie die eines Interfraktionellen Positionspapiers, die die Gefahr sehen, dass dadurch der Schutz des ungeborenen Lebens ausgehöhlt und ein Druck geschaffen werde, keine Kinder mit Trisomie 21 und dem damit verbundenen Down-Syndrom auf die Welt zu bringen (vgl. http://www.netzwerk-praenataldiagnostik.de/fileadmin/praenatal-diagnostik/bilder/180703_Interfraktionelles_Positionspapier_NIPD.pdf). Auf der anderen Seite befinden sich Menschen wie die Berichterstatterin für Pränataldiagnostik der SPD-Fraktion Hilde Mattheis, die die Gefahren deutlich geringer einschätzen und umgekehrt nicht einsehen wollen, dass die Frage nach dem Zugang zu diesen Test von der Größe des eigenen Geldbeutels bestimmt werden soll (vgl. http://www.fr.de/politik/meinung/gastbeitraege/gastbeitrag-ein-test-nur-fuer-schwangere-mit-geld-a-1601310).

Nun hat die EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung eine Stellungnahme verabschiedet (https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/NIPD-2018.pdf), die aus meiner Sicht die Fakten gut zusammenfasst, die ethischen Probleme beschreibt und dann zu einem Votum kommt, welches die Pole Freiheit und Verantwortung in einer gelungenen, evangelischen Weise zusammenbringt und die sich der Rat der EKD zu eigen gemacht hat:

„Die Kammer empfiehlt grundsätzlich, die Nichtinvasiven Pränataltests (NIPT) aufgrund ihres für die schwangere Frau und das ungeborene Kind erheblich schonenderen Charakters in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen. Diese zustimmende Empfehlung ist allerdings daran geknüpft, dass eine neue psychosoziale, dem Lebensschutz verpflichtete Beratung eingeführt wird, die schwangere Frauen und Paare darin begleitet, eine individuell verantwortete Entscheidung darüber zu fällen, ob sie den genetischen Bluttest durchführen wollen und in der Lage sind, die sich daraus etwa ergebenden Folgen zu tragen.” (S. 7.)

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Geben Sie oder geben Sie nichts – zehn Ratschläge, bettelnden Menschen zu begegnen

Soll man Menschen, die auf der Straße um Geld betteln, etwas geben? Wie gewinne ich innere Freiheit, ohne meine Menschlichkeit zu verlieren?

Im Rundbrief der Kana-Suppernküche Dortmund habe ich folgende Tipps aus dem Newsletter „Hospitality“ der Open Door Community (Baltimore, USA) gefunden, die es aus meiner Sicht eine gute Antwort auf diese Frage geben.

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By smial (Own work) [FAL or GFDL 1.2], via Wikimedia Commons

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Unsicherheit realistisch ins Auge sehen statt Freiheit zerstören

Ein Satz vorweg: Das Leben ist unsicher, war unsicher und wird auch immer unsicher sein – jedenfalls, wenn man den Maßstab der Sicherheit nur hoch genug hängt. Es kann immer passieren, dass ein technisches Gerät oder ein Mensch versagt und dadurch einen anderen verletzt oder gar tötet; es kann immer passieren, dass jemand einen anderen angreift oder gar umbringt; und auch Diebstahl oder sexuelle Übergriffe hat es immer gegeben und wird es immer geben, ganz egal, wie streng die Gesetze sind und wohl auch egal, wie streng sie überwacht werden. Aller Erfahrung nach würden es selbst im perfekten Überwachungsstaat Menschen oder Gruppen schaffen, sich zu entziehen und ihre Macht für ihre eigenen Interessen und Schwächen auszunutzen und damit Schaden für Dritte anzurichten.

Ich weiß, der oben geäußerte Gedanke klingt trivial, aber angesichts eines Klimas, dass nach immer mehr Sicherheit ruft, wollte ich die Tatsache der Unvermeidbarkeit der Unsicherheit doch noch einmal in Erinnerung rufen. Was natürlich nicht heißt, dass der Wunsch nach Sicherheit abzulehnen wäre oder dass es nicht wichtig wäre, vermeidbare Unsicherheiten zu reduzieren.

kriminalstatistik

Zusammengestellt von Hanno Paul, krankenhauspfarrer.net

Ein gelungenes Beispiel sind da für mich die Zahl der Autodiebstähle. Durch den Einbau von technischen Wegfahrsperren haben die sich schon länger im Vergleich zu 1990 auf ein Fünftel reduziert. Super!

Bei anderen Delikten ist die Entwicklung ja recht unterschiedlich. Sie ist ja auch nicht so ganz leicht zu bestimmen. Als ein Dokument habe ich mir die Bundeskriminalstatistik der letzten 60 Jahre angeschaut. Es ist schon klar, sie ist nur ein grober Indikator. Sie gibt nur die Straftaten an, die auch bekannt werden und das auch nur verspätet, d.h. wenn die Fälle an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden. Und so verzerrt natürlich eine sich über die Jahre verändernde Anzeigebereitschaft (oder auch die Bereitschaft, Anzeigen aufzunehmen) das Bild genauso wie kleinere Veränderungen im Zählverfahren oder auch Gesetzesänderungen, die neue Delikte schaffen oder die Tatmerkmale verändern. Und natürlich ist die Bundeskriminalstatistik allgemein und sagt nicht über die Lebenssituation in einzelnen Städten oder gar Vierteln aus. Weiterlesen

Gelungene Polizeiaktion statt Krieg gegen den Terror

polizeiZu Flucht und Ergreifung des mutmaßlichen IS-Terroristen Albakr

Viele haben sich gefragt, wie kann es geschehen, dass ein Terrorist unter den Augen der Polizei entfliehen kann. Die überzeugende Antwort gab für mich der Präsident des LKA Sachsen in seiner gestrigen Stellungnahme (als Transkript z. B. gepostet unter https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Terrorverdaechtiger-Syrer-in-Leipzig-festgenommen/LKA-Praesident-Joerg-Michaelis-erklaert-den-verpatzten-Einsatz-in-Chemnitz/posting-29330973/show/).

Er macht darin deutlich, dass zum einen der Schutz der Anwohner Priorität hatte, um dann weiter zu bemerken:

„Auch ganz wichtig dann: nicht sicher war, ob es sich bei der Person um den Albakr handelt, wurde er aus einiger Entfernung von Einsatzbeamten aufgefordert stehen zu bleiben. Die Person ergriff daraufhin die Flucht. Mittels Warnschuss wurde versucht, das Stehenbleiben zu erreichen. Der Flüchtende reagierte nicht. Eine Schussabgabe auf ihn war nicht möglich und viel zu riskant da sich unbeteiligte Personen in Schussrichtung befanden.“

Eigentlich selbstverständlich und doch wohltuend in einem Klima, in dem immer wieder vom „Krieg gegen den Terror“ die Rede ist. Im Krieg zählt nur der Erfolg, Kollateralschäden werden hingenommen. Hier wurde abgewogen und Menschenleben aller Ethnien geschützt. Ein ermutigender Kontrast zu den Berichten aus manchen amerikanischen Städten, wo sehr schnell mit tödlicher Wirkung auf schwarze mutmaßliche Gesetzesbrecher geschossen wurde. Weiterlesen

Krebs: Von der Freiheit der Entscheidung

Mein Vater ist in den 7oJahren früh an Magenkrebs verstorben. Er hatte das Glück, seine letzte Zeit zuhause verbringen zu dürfen und im wahrsten Sinne des Wortes in seinem eigenen Bett in der Tiefe der Nacht zu entschlafen. Das war für mich als Kind ein Trost.

Wütend allerdings hat mich schon damals gemacht, dass mir erzählt wurde, die Strahlentherapie, die er bis einige Zeit vor seinem Tod bekommen und unter der er sehr gelitten hatte, hätte er nicht gekriegt, weil man noch eine lindernde oder gar heilende Wirkung davon erwartet hätte, sondern nur, um ihm nicht das Gefühl zu geben, nichts mehr zu tun. Das hat früh in mir ein Misstrauen hinterlassen, was den Sinn ärztlicher Entscheidungen im Allgemeinen und Chemotherapien und Bestrahlungen im Besonderen betrifft.

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Kontrastprogramm

Nun habe ich ja als Krankenhauspfarrer viel mit Menschen zu tun, die auf unterschiedlichste Weise an Krebs erkrankt sind und mit Ärztinnen und Ärzten, die viel Fachwissen und Engagement einsetzen, diesen Menschen zu helfen. Ich mag diese Menschen und schätze ihre Arbeit. Doch manche grundlegenden Fragen sind geblieben, und ich merke, dass es da keine einfachen Antworten gibt. Weiterlesen

„Leben als Fragment”

Seit mir die vom Marburger Theologen Henning Luther geprägte Formulierung „Leben als Fragment” (so der Titel seines Aufsatzes in der Zeitschrift Wege zum Menschen, 43. Jg. 1991, S. 262.-273) begegnet ist, beschäftigt sie mich. Aus meiner Sicht ist sie das  notwendige Gegengewicht zu allen Entwürfen von Ganzheitlichkeit.

Ganzheitliches Leben – die eigene Vervollkommnung an Körper, Geist und Seele, das Wahrnehmen der anderen in all ihren Bedürfnissen: körperlich, psychisch, sozial, emotional, spirituell – all dies hat mich und viele in meiner Umgebung lange Zeit fasziniert.

Cpa-es-bulloz-rodin5lapenseeUnd nicht zu unrecht. Der Wunsch oder die Forderung nach Ganzheitlichkeit entstand als Gegenreaktion auf viele Einseitigkeiten in unserer Gesellschaft, auf die Betonung des Körperlichen in der Medizin, des Materiellen in der Gesellschaft, der intellektuellen Leistung in der Bildung, dem Wort im evangelischen Gottesdienst usw. Angesichts dieser Verengungen weitere Dimensionen des Lebens in den Blick zu nehmen war und ist ein wichtiges Anliegen.

Aber es gibt  eben auch diese andere Seite:  Das Leben ist viel zu komplex, um es ganz begreifen und alle Dimensionen auch nur in annähernder Vollkommenheit leben zu können. Jeder Mensch wählt aus, und das ist auch sein gutes Recht.

Für mich ist da ein bezeichnendes Beispiel ein Mann um die 50, der vor einigen Jahren auf unserer Palliativstation kam. Bei ihm war ein Jahr vorher ein eher aggressiver Krebs festgestellt worden. Er hatte sich operieren lassen, dann aber auf weitere Behandlungen verzichtet. Stattdessen hatte er sein Leben genossen, was für ihn hieß, er war seinen Hobbys nachgegangen und war vor allem viel mit seiner Frau verreist. Über seine Krankheit hatte er nicht gesprochen. Als dann nach einem Jahr die Symptome sich vermehrten und er bei einer erneuten Untersuchung erfuhr, wie stark sein Tumor gewachsen war, stellte er das Reden, Essen und Trinken total ein. Daraufhin wurde er von seiner Frau auf die Palliativstation gebracht, wo er dann  innerhalb von gut zwei Wochen verstarb. Weiterlesen

Die Freiheit des Lachens

In den Zeiten von Karneval und den Angriffen muslimischer Extremisten auf Charlie Hebdo habe ich mir die Frage gestellt, wie eigentlich die Bibel zum Lachen steht. Ganz leicht zu beurteilen ist das nicht, denn viele ihrer Witze und Anspielungen verstehen wir gar nicht mehr (so bei der satirischen Königswahl in Richter 9 oder dem Spott über die (auf das römische Militär anspielende) „Legion” böser Geister (Markus 5), die in die Schweineherde fährt). Aber es gibt biblischen Spott und biblische Satire, und ihre Aufgabe war es, wie heute auch, menschlich problematische Zustände zu kritisieren. Und die einen werden darüber gelacht haben, und die anderen sind wohl darüber verärgert gewesen.

PfarrerwitzGut ist es, wenn es die Schwachen sind, die lachen können, und die Starken, die sich ärgern. Sich über einen am Boden Liegenden lustig zu machen, ist genauso menschenverachtend, wie auf einen Besiegten einzutreten. (Das unterscheidet Judenwitze von jüdischen Witzen.) Aber alle, die Menschen unterdrücken oder Gewalt und Zwang propagieren, haben Spott und Satire verdient, egal ob es Politiker, Wirtschaftsführer, Militärs oder Kirchenleute sind. Weiterlesen