Seit mir die vom Marburger Theologen Henning Luther geprägte Formulierung „Leben als Fragment” (so der Titel seines Aufsatzes in der Zeitschrift Wege zum Menschen, 43. Jg. 1991, S. 262.-273) begegnet ist, beschäftigt sie mich. Aus meiner Sicht ist sie das notwendige Gegengewicht zu allen Entwürfen von Ganzheitlichkeit.
Ganzheitliches Leben – die eigene Vervollkommnung an Körper, Geist und Seele, das Wahrnehmen der anderen in all ihren Bedürfnissen: körperlich, psychisch, sozial, emotional, spirituell – all dies hat mich und viele in meiner Umgebung lange Zeit fasziniert.
Und nicht zu unrecht. Der Wunsch oder die Forderung nach Ganzheitlichkeit entstand als Gegenreaktion auf viele Einseitigkeiten in unserer Gesellschaft, auf die Betonung des Körperlichen in der Medizin, des Materiellen in der Gesellschaft, der intellektuellen Leistung in der Bildung, dem Wort im evangelischen Gottesdienst usw. Angesichts dieser Verengungen weitere Dimensionen des Lebens in den Blick zu nehmen war und ist ein wichtiges Anliegen.
Aber es gibt eben auch diese andere Seite: Das Leben ist viel zu komplex, um es ganz begreifen und alle Dimensionen auch nur in annähernder Vollkommenheit leben zu können. Jeder Mensch wählt aus, und das ist auch sein gutes Recht.
Für mich ist da ein bezeichnendes Beispiel ein Mann um die 50, der vor einigen Jahren auf unserer Palliativstation kam. Bei ihm war ein Jahr vorher ein eher aggressiver Krebs festgestellt worden. Er hatte sich operieren lassen, dann aber auf weitere Behandlungen verzichtet. Stattdessen hatte er sein Leben genossen, was für ihn hieß, er war seinen Hobbys nachgegangen und war vor allem viel mit seiner Frau verreist. Über seine Krankheit hatte er nicht gesprochen. Als dann nach einem Jahr die Symptome sich vermehrten und er bei einer erneuten Untersuchung erfuhr, wie stark sein Tumor gewachsen war, stellte er das Reden, Essen und Trinken total ein. Daraufhin wurde er von seiner Frau auf die Palliativstation gebracht, wo er dann innerhalb von gut zwei Wochen verstarb.
Für die Frau war das natürlich hochgradig belastend. Sie hätte gerne mit ihm gesprochen, hätte gern von seinen Gefühlen erfahren, hätte gerne auf andere Weise Abschied von ihm genommen.
Für Menschen, die ein Konzept von ganzheitlichem Leben und Sterben haben, sind die Defizite solch eines Sterbens offensichtlich. Ich selbst aber denke, auch diese Weise seine letzte Lebenszeit zu gestalten, hat ihren Sinn; und ich kann mir gut vorstellen, dass diese Art zu leben und zu sterben diesem Mann angemessen war. Er hat sich vielem nicht gestellt, er hat manches nicht geklärt, aber er hat das gelebt, was ihm wichtig war, statt seine letzten Monate mit Grübeln, Therapien und ihren Nebenwirkungen zu verbringen.
Für mich ist das ein Ausdruck des Fragmentarischen in seinem Leben und in jedem Leben. Jeder Mensch muss irgendwann erkennen, dass er nicht alles von dem, was ihm wichtig ist, leben kann. Dass er immer wieder Fehler macht, dass er einen Teil seiner Begabungen liegen lassen wird, dass er einen Teil seiner möglichen Beziehungen nicht verwirklichen wird, dass ein Teil seiner Pläne scheitern werden. Er wird realisieren, dass auch Wachstums- und Heilungsprozesse in Ausbildungen und Therapien ihre Grenzen haben, genauso wie in Eheberatungen oder Teamsupervisionen, und dass somit Wunden und Narben bleiben werden, in mir wie zwischen uns.
Wir müssen mit dem Fragmentarischen, dem Unvollkommenen, dem Unvollendeten, leben. Oder um Paulus zu zitieren:
Unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. […] Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin ( I Kor 13, 10.12)
Ja, Paulus weiß um das Fragmentarische irdischen Lebens. Und er weiß es eingebettet in eine größere Wirklichkeit. Wenn ich das Fragmentarische akzeptiere, entsteht daraus eine innere Freiheit und eine ungeheure Kraft. Dann muss ich meine Unvollkommenheiten, meine dunklen Stellen und Brüche nicht mehr verleugnen, dann muss ich mich auch meiner Grenzen nicht mehr schämen, sondern kann sie als Teil meiner selbst wahrnehmen, und das, was ich leben kann und leben will, leben. Und ich bekomme Mitgefühl mit anderen Menschen mit ihren Grenzen.
Das könnte ein Anfang sein, manche unnötige Grenze zu überwinden.