Ein Seelsorger für alle sein?

In Deutschland gibt es seit einiger Zeit eine Diskussion über das Verhältnis von konfessioneller Krankenhausseelsorge und Spritual Care, also einem Bemühen um die spirituellen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten im Gesundheitssystem. 1  Diese Sorge würde oder wird dann von dessen Mitarbeitenden (Pflegenden, Ärztinnen und Ärzten, Krankenhauspfarrerinnen und -pfarrern oder neu anzustellende Menschen mit entsprechender Kompetenz) geleistet. Da diese Diskussion neben vielen anderen Punkten auch die Frage berührt, inwieweit es möglich, sinnvoll bzw. geboten ist, auch Menschen, die anders glauben, seelsorgerlich zu begleiten, habe sie zum Anlass genommen, mir über meine eigene Praxis Rechenschaft abzulegen.

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Ich unserem evangelischen Haus in einer evangelischen Gegend (ca. zwei Drittel unserer PatientInnen geben als Konfession evangelisch an) geschieht Krankenhausseelsorge nur durch die evangelische Kirche. Von daher war es immer mein Ansatz, mich erst einmal (bis ich anderes weiß) für alle als zuständig zu empfinden, meine Begleitung unabhängig von einer Konfession anzubieten, natürlich zu akzeptieren, wenn ein Besuch aus welchen Gründen auch immer  nicht gewünscht ist, und auf Wunsch auch den Kontakt zu Vertretern anderer Glaubensgemeinschaften herzustellen.

Im Grundsatz bin ich von dieser Einstellung noch immer überzeugt. (Und die bittere Enttäuschung einer katholischen Patientin, die viele Wochen in einem anderen Haus gelegen hatte, dann von einem evangelischen Kollegen zwar begrüßt wurde, aber nach der Nennung ihrer Konfession auch gleich wieder verabschiedet, hat mich darin noch einmal bestärkt.)

Trotzdem merke ich, dass mir Begleitungen leichter fallen und ich sie auch oft als produktiver für mein Gegenüber erlebe, wenn es eine Nähe in unserem Glauben gibt. Das hat erst einmal nichts mit einer formalen Konfessionsangehörigkeit zu tun. Entscheidender sind vielmehr zwei Dinge: Zum einen die Erwartungshaltung meines Gegenübers und zum anderen die Angebote, die ich ihm realistischer Weise machen kann – und beides hängt eben auch mit der realen oder erwarteten Nähe unseres Glaubens zusammen. Weiterlesen

„Und vergib uns unsere Schuld“

Gedanken zum Umgang mit Schuldfragen in Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Chris Paul

Kennen Sie auch solche Situationen? Da stirbt eine erwachsene Frau bei einem Kanuunfall und ihre Mutter macht sich Schuldvorwürfe, dass sie diese nicht von diesem Sport abgehalten hat, obwohl sie wusste, dass ihre Tochter ihn immer sehr gefahrenbewusst praktiziert hat. Da erhebt ein Mann nach dem Krebstod seiner Frau heftige Vorwürfe gegen Ärzte und Pflegepersonal, obwohl Sie selbst den Eindruck haben, dass diese sich gar nicht so falsch verhalten haben. Da suchen Eltern nach ihrer Schuld, weil ihr Sohn psychisch krank geworden ist. Da leidet ein alter Mann noch heute an den Dingen, an denen er im Krieg beteiligt war. Da hat eine Tochter massive Schuldgefühle, weil sie ihre Mutter zwar liebevoll gepflegt hat, aber bei ihrem Tod nicht dabei war.

In der Seelsorge, der Hospiz- und Trauerbegleitung ist Schuld ein genauso brennendes Thema wie nach Notfällen oder in der Therapie. Schuld ist etwas, das jede und jeden betrifft und das ganz schnell viele Gefühle freisetzt – auch bei der Begleitperson. Da entsteht schnell ein Sog zur Parteinahme, dazu, Verurteilungen zu teilen oder Schuld ausreden zu wollen. Wobei die Resultate dieser Aktionen oft wenig hilfreich sind.

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Jesus: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34) – Bild: Die Kreuzigung Jesu Christi, Illustration aus dem Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg (12. Jahrhundert) Fotograf: Dnalor_01

Mir hat zum Verständnis dieser Dynamik das 2010 im Gütersloher Verlagshaus erschienene Buch der Trauerbegleiterin Chris Paul „Schuld | Macht | Sinn“ geholfen, die darin folgende Thesen formuliert:

  1. (und das ist ihre Grundannahme) Schuld sei ein Deutungsmuster. Damit grenzt sie sich gegen die Vorstellung einer „realen“ Schuld unabhängig vom subjektiven Bewertungssystem ab. Als Konsequenz aus dieser Annahme wird die Unterscheidung von echter Schuld und Schuldgefühlen unsinnig.
  2. Schuld könne als (innere) Konstruktion aus zwei Bestandteilen verstanden werden: aus einem Regelwerk und einem Bestrafungs- oder Bußkatalog. Beide Bestandteile dieser Konstruktion seien zwar gesellschaftlich geprägt, aber letztlich individuell. Wenn man daran arbeiten wolle, müsse man sie also in jedem Einzelfall kennenlernen.
  3. Typische Straf- oder Bußmaßnahmen seien: Vergeltung von Gleichem mit Gleichem, Vergeltung von Gleichem mit anderem Schlechten und Wiedergutmachung.
  4. Dieser Mechanismus aus wahrgenommener Regelverletzung und (Selbst-) Bestrafung werde durch die unterschiedlichsten Zusammenhänge in Gang gesetzt, sowohl bezüglich eigener Taten wie Taten von Fremden. Sein inneres Ziel sei das Sühnen der Schuld, verstanden als die Herstellung eines jeweils stimmigen Gleichgewichts der Gerechtigkeit.
  5. Wichtig sei, sich bewusst zu machen, dass dieser Schuldmechanismus voller Energie steckt. So provoziere er bei allen Beteiligten, auch beim Beobachter, viele Reaktionen wie Gefühle, Bewertungen, Handlungen etc. Häufig komme es auch zu Schuldverschiebungen (also dass zuerst der eine, dann der andere und dann eine dritte beschuldigt werden) bis dahin, dass der Eindruck entstehe, da sei Schuld im Raum, die einfach nur ein Objekt suche, an dass sie sich heften könne (vagabundierende Schuld).
  6. Eine für die Begleitung von Menschen, die mit Schuld zu tun haben, zentrale Unterscheidung sei  die von normativer und instrumenteller Schuldzuweisung. Bei der normativen Schuldzuweisung komme die Hauptenergie des Schuldmechanismus aus der Verletzung von (inneren oder äußeren) Regeln, bei der instrumentellen Schuldzuweisung  aus anderen Quellen. Sie diene dann z. B. zur Herstellung von Erklärungen, zur Herstellung eines subjektiven Gefühls der Handlungsfähigkeit, zur Herstellung innerer Verbundenheit, als Ventil bei akuter Überforderung, als Platzhalter für andere als unerträglich empfundenen Gefühle oder Gedanken oder präge als Lebensmuster das gesamte Lebensverständnis und Lebensgefühl dieses Menschen.

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Kann Leiden stark machen?

Vor einiger Zeit sprach Traugott Roser auf dem Jubiläum der Hospizgruppe am Lukas-Krankenhaus Bünde über Resilienz. Dabei beschrieb er, dass zu den Faktoren, die es leichter machen, belastende Dinge gut zu überstehen, der Umgang mit früheren Erfahrungen von Leid und Schmerz gehören kann. In dem Zusammenhang erzählte er von einer älteren Frau, die schon zwei Kinder verloren hatte und der man dann auch noch mitteilen musste, dass auch ihr Mann gestorben war. Alle befürchteten, dass sie unter dieser Nachricht zusammenbrechen würde; aber sie konnte sie dann deutlich gelassener nehmen, als die anderen es erwartet hatten und sagte, denn sie hätte gelernt, mit Schmerz zu leben.

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Fjord in Norwegen

Mich erinnert das an eine Patientin, ich nenne sie Frau A1, die ich selbst vor einiger Zeit betreut habe. Sie war Ende 40 und litt seit 5 Jahren an Krebs. Sie hatte sich in dieser Zeit immer wieder Chemotherapien unterzogen und ihre erste Prognose schon um dreieinhalb Jahre überlebt. Viele der Therapien waren belastend gewesen, aber Frau A. hatte dies hingenommen und zugleich darauf bestanden, dass sich das Leben weiter lohnen solle. So hatte sie sich z.B. einen Lebenstraum verwirklicht und eine Kreuzfahrt auf der Hurtigruten unternommen, auch wenn sie dabei zwischenzeitlich auf einen Rollstuhl angewiesen war. Weiterlesen