Unsicherheit realistisch ins Auge sehen statt Freiheit zerstören

Ein Satz vorweg: Das Leben ist unsicher, war unsicher und wird auch immer unsicher sein – jedenfalls, wenn man den Maßstab der Sicherheit nur hoch genug hängt. Es kann immer passieren, dass ein technisches Gerät oder ein Mensch versagt und dadurch einen anderen verletzt oder gar tötet; es kann immer passieren, dass jemand einen anderen angreift oder gar umbringt; und auch Diebstahl oder sexuelle Übergriffe hat es immer gegeben und wird es immer geben, ganz egal, wie streng die Gesetze sind und wohl auch egal, wie streng sie überwacht werden. Aller Erfahrung nach würden es selbst im perfekten Überwachungsstaat Menschen oder Gruppen schaffen, sich zu entziehen und ihre Macht für ihre eigenen Interessen und Schwächen auszunutzen und damit Schaden für Dritte anzurichten.

Ich weiß, der oben geäußerte Gedanke klingt trivial, aber angesichts eines Klimas, dass nach immer mehr Sicherheit ruft, wollte ich die Tatsache der Unvermeidbarkeit der Unsicherheit doch noch einmal in Erinnerung rufen. Was natürlich nicht heißt, dass der Wunsch nach Sicherheit abzulehnen wäre oder dass es nicht wichtig wäre, vermeidbare Unsicherheiten zu reduzieren.

kriminalstatistik

Zusammengestellt von Hanno Paul, krankenhauspfarrer.net

Ein gelungenes Beispiel sind da für mich die Zahl der Autodiebstähle. Durch den Einbau von technischen Wegfahrsperren haben die sich schon länger im Vergleich zu 1990 auf ein Fünftel reduziert. Super!

Bei anderen Delikten ist die Entwicklung ja recht unterschiedlich. Sie ist ja auch nicht so ganz leicht zu bestimmen. Als ein Dokument habe ich mir die Bundeskriminalstatistik der letzten 60 Jahre angeschaut. Es ist schon klar, sie ist nur ein grober Indikator. Sie gibt nur die Straftaten an, die auch bekannt werden und das auch nur verspätet, d.h. wenn die Fälle an die Staatsanwaltschaft abgegeben werden. Und so verzerrt natürlich eine sich über die Jahre verändernde Anzeigebereitschaft (oder auch die Bereitschaft, Anzeigen aufzunehmen) das Bild genauso wie kleinere Veränderungen im Zählverfahren oder auch Gesetzesänderungen, die neue Delikte schaffen oder die Tatmerkmale verändern. Und natürlich ist die Bundeskriminalstatistik allgemein und sagt nicht über die Lebenssituation in einzelnen Städten oder gar Vierteln aus.

Dennoch widerspricht sie meiner Meinung nach deutlich dem Eindruck, das Leben sei in den letzten Jahren immer mehr von Kriminalität bedroht. Trotz aller Amokläufe, Terrorakte und Berichten über Sexualmorden – die Anzahl von Mord- und Totschlagsdelikten ist bezogen auf die Bevölkerungszahl seit vielen Jahrzehnten fast konstant (und hier dürfte das Dunkelfeld relativ klein sein). Dasselbe gilt für die Zahl der Vergewaltigungen (hier dürfte das Dunkelfeld wesentlich größer sein, aber es erscheint mir unwahrscheinlich, dass da heute weniger angezeigt würde als früher). Auch der Anstieg der Zahlen im letzten Jahr bewegt sich noch innerhalb des Rahmens der letzten 20 Jahre.

Andere schwere Delikte wie Raub oder schwere Körperverletzung haben in der Tat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, beide schon in der alten Bundesrepublik und dann auch weiter nach der Wende. Aber auch hier gab es zumindest eine Trendwende: Im Vergleich zur Jahrtausendwende haben wir nur noch 70% der Raubdelikte und trotz des Wiederanstiegs 2016 im Vergleich zu 2007 nur noch gut 90% der gefährlichen oder schweren Körperverletzungen – sicher viel zu viel, aber kein Grund zur Panik. Stark gestiegen ist seit 2008 die Zahl der Wohnungseinbrüche (die sich allerdings seit 2016 wieder verringert haben), und auch sie liegen noch deutlich unter dem Maximum von 1995.

Wenn ich all diese Zahlen sehe, dann denke ich, dass das Thema Sicherheit genau den Platz haben sollte, der ihm zusteht. Wir sollten vernünftige Dinge tun, die Sicherheit zu erhöhen bzw. hoch zu halten, aber zugleich sollten wir uns weder Freiheit, Privatsphäre noch Lebensfreude nehmen lassen.

Vernünftig erscheint es mir, unsere Polizei so auszustatten, dass sie da, wo es erforderlich ist, die Unversehrtheit oder das Eigentum der Menschen zu schützen, in ausreichender Stärke präsent sein kann. Vernünftig erscheint es mir, unsere Gerichte so auszustatten, dass sie ihre Urteile zügig fällen können. Er recht vernünftig erscheint es mir, Sozial-, Wirtschafts- und Bildungspolitik so zu gestalten, dass alle Menschen, die in unserem Land wohnen, erträgliche Lebensbedingungen und Perspektiven haben.

Aber die Strafgesetze immer weiter zu verschärfen, geflüchtete Menschen unter Generalverdacht zu stellen oder die Überwachung immer weiter auszubauen (durch noch mehr Kameras im öffentlichen Raum, mehr Computerüberwachung, Abschaffung des Bargelds, elektronische Erfassung des Verkehrs etc.), das alles erscheinen mir Schritte in die falsche Richtung zu sein, die unser Leben auf Dauer gefährlicher und weniger lebenswert machen.

Denn Kriminalität gibt es nicht nur „unten”, sondern auch „oben”. Immer wieder haben Regierungen oder Menschen in Regierungen auch westlicher Staaten (aber auch in der Wirtschaft) reale oder vermeintlich Kontrahenten bespitzelt. Und ebenso hat sich auch  immer wieder das Klima in einem Land so verändert, dass auf einmal Andersdenkende offen verfolgt oder ihnen indirekt Steine in den Weg gelegt wurden.

Von daher war es den Väter unseres Grundgesetzes wichtig, unsere Freiheiten zu schützen. Lasst uns das nicht für eine vermeintliche Sicherheit aufgeben!

Die oben benannte Zusammenstellung der Bundeskriminalstatistik 1955-2016 samt ihrer Quellen findet sich hier.

Und dass Kriminalität kein Problem von heute ist, zeigt auch dieses nette 90 Jahre alte Couplet:

http://www.otto-reutter.de/index.php/couplets/texte/221-der-ueberzieher.html

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