Es ist nun weit über dreißig Jahre her, dass ich im Rahmen meines ersten Seelsorgekurses von meinem damaligen Supervisor Klaus Winkler, Professor für praktische Theologie und Psychoanalytiker, auf das von ihm selbst geprägte Wort vom „persönlichkeitsspezifischen Credo” (vgl. Klaus Winkler, Das persönlichkeitsspezifische Credo, in: Wege zum Menschen 34 (1982) 159 – 163, 162.) aufmerksam gemacht wurde. Das damit verbundene Konzept besagt, dass unsere Persönlichkeit und unser Glauben untrennbar zusammenhängen und dass es dies nicht zu bekämpfen, sondern produktiv anzunehmen gelte.

Der Göttinger Barfüßeraltar zeigt die 12 Apostel und ordnet jedem von ihnen einen Teil des Apostolischen Glaubensbekenntnisss zu; Foto: Jean Louis Mazieres
Sein Beispiel, an das ich mich bis heute erinnere, war dies: Es gibt Menschen, die von ihrer Persönlichkeit her Freiheit lieben und die die Enge und das Gebundensein klarer Ordnungen und Strukturen fürchten. Und es gibt andere, bei denen das genau umgekehrt ist: Sie lieben die Geborgenheit, Beständigkeit und vor allem klare Ordnung und fürchten sich vor der Ungewissheit, der Eigenverantwortung und den Unberechenbarkeiten der Freiheit.
Für einen Menschen der ersten Gruppe ist es naheliegend, dass Gott, wenn er von ihm in seinem Innersten berührt wird, als befreiende Kraft erfahren wird, – so wie der Psalmist es ausdrückt: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum” (Psalm 31,9). Und er steht damit im Einklang mit bedeutenden biblischen Traditionen: angefangen vom Auszug des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei bis hin zu Paulus, der Christus ebenfalls vor allem als Befreier erlebt hat – exemplarisch sein Aufruf im Galater-Brief: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!” (Gal 5,1).
Eine Person der zweiten Gruppe würde aber eine Predigt, die Gott in dieser Weise als Befreierin verkündet, wahrscheinlich eher als Bedrohung empfinden. Ihre Gotteserfahrung wird eher an die Texte anknüpfen, die Gott z.B. in den Geboten als Garanten einer guten Ordnung sieht, die er dann auch mit aller Macht verteidigt, exemplarisch 5. Mose 27,26: „Verflucht sei, wer nicht alle Worte dieses Gesetzes erfüllt, dass er danach tue! Und alles Volk soll sagen: Amen.” Und neben der Wohltat klarer Regeln wäre für sie vielleicht noch die Erfahrung von Geborgenheit zentral, so wie es bei Jesaja heißt: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!” (Jes 43,1)

Geborgenheit bei Gott – Ikone in einer Kirche auf der Holy Isle of Lindisfarne, eigene Fotografie
Beides sind Erfahrungen, die Menschen machen können, wenn sie von Gott in ihrer Tiefe berührt werden; beide haben damit zu tun, dass Menschen erfahren, dass sie von Gott in der Weise geliebt sind, dass sie mit dem, was sie unbedingt brauchen (oder doch zu brauchen glauben) akzeptiert sind. Aber was das heißt, ist eben für unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Persönlichkeitstypen ganz verschieden. (Und natürlich hängt es auch noch von anderen Lebensfaktoren wie der sozialen und wirtschaftlichen Situation oder dem Geschlecht ab.) Schwierig wird es dann aber, wenn die einen die anderen von ihrem Gottesbild überzeugen wollen, also z.B. dass Gott für Freiheit oder für Ordnung steht, für Gemeinschaft oder dafür, auch als Einzelne zu sich stehen zu können.
Wie gesagt, diese Erkenntnis hat mich als junger Student erreicht. Sie war mir sehr hilfreich, den Sinn und Unsinn bestimmter Kämpfe in der Kirche zu verstehen, also zu begreifen, dass die Frage, ob ich von Gott als Befreiung oder als Garanten der Ordnung spreche, ob ich Gott eher als Person oder als Kraft begreife, oder auch, ob ich Gottesdienste eher für die Einzelnen oder für die Gemeinschaft gestalte, dass dies alles keine Fragen von absoluter Wahrheit sind, sondern sie sehr viel mit den jeweiligen Bedürfnissen der einzelnen Beteiligten oder ihrer Gruppen zu tun haben.
Mir gibt diese Erkenntnis Freiheit und Gelassenheit (mein Bedürfnis!). Es hilft mir, auch zu verstehen, für welche Personen ich in besonders guter Weise Seelsorger sein kann (i.d.R. eher für die, die ähnlich ticken wie ich), und es macht mir meine Übersetzungsaufgabe klar für Menschen, die anders strukturiert sind (und es gehört ja zu den berechtigten Erwartungen an einen professionellen Theologen, diese Übersetzungsarbeit leisten zu können).

Du stellst meine Füße auf weiten Raum – Gotteserfahrung in der Natur, eigene Fotografie
Zugleich führt es mich zu der Frage nach der Einheit Gottes, nach dem Verbindenden, was hinter all den unterschiedlichen Bildern und Vorstellungen steht, auch nach dem Widerständigen, was uns nicht nur in unserem Leben bestätigt, sondern was zugleich Möglichkeiten zur Korrektur und damit eben auch zum Wachstum bereitstellt und mich auch ethisch im Blick auf die anderen Menschen in dieser Welt in die Pflicht nimmt.
Die Bibel und die Erfahrungen der Menschen, die ihr folgen, sind für mich nicht beliebig. Sie spiegeln unterschiedlichste Lebenssituationen und Persönlichkeitsstrukturen wider, doch darin gruppieren sie sich um einen Kern, der sich vielleicht in diesen Sätzen beschreiben ließe:
- „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (1.Mose 1,1.)
- „Ich bin der Herr dein Gott… Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.” (2. Mose 20,2-3.) (bzw. in der vielleicht noch treffenderen Übersetzung von Ernst Lange: „Du wirst keine anderen Götter haben neben mir.“ (Vgl. Ernst Lange, Die zehn großen Freiheiten. Gelnhausen und Berlin: Burckhardthaus-Verlag, 1978)
- „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst … tu das, so wirst du leben.” (Lk 10,27f.). „Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt (3. Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«” (Gal 5,14).
- „Alle haben ja gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verspielt. Gerecht gemacht werden sie ohne Verdienst aus seiner Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist.” (Röm 3,23f. Zürcher Bibel).

Gott als Befreier – Gebet vor dem Atomwaffenlager in Büchel
Natürlich sind diese Sätze nur eine von vielen möglichen Zusammenstellungen, um den Kern des christlichen Glaubens zu erfassen. Aber sie spiegeln in ihrer alten, jeweils zeitgebundenen Sprache Erfahrungen wider, die mir auch heute wichtig sind: Dass wir nicht selbst uns und diese Welt geschaffen haben, sondern sie vorfinden und gestalten müssen. Dass es sich lohnt, sich auf die Kraft / diese Person zu beziehen, der diese Welt ihre Existenz verdankt, und so frei zu sein, sich ggf. anderen Mächten zu widersetzen. Dass alle Menschen dasselbe Lebensrecht haben und dass gelingendes Leben in vieler Hinsicht nicht einfach Frucht unseres Tuns, sondern in der Tiefe ein nicht zu produzierendes Geschenk ist.
Was dies im einzelnen heißt, ist immer wieder neu zu bestimmen. Und da bin ich froh, dass wir die unterschiedlichen Glaubensbekenntnisse haben – in der Bibel, in unserer Tradition und eben auch, persönlichkeitsspezifisch unter uns. Wenn wir in einen Dialog mit ihnen eintreten, wenn wir uns auf sie jeweils als spezifische Zeugen eines Aspektes der umfassenden Wahrheit einlassen, dann können sie unser Leben und unseren Glauben bereichern und uns helfen, in der Tiefe unserer Persönlichkeit zu verstehen, was Gott für uns und die Welt will.
Und dann wird es vielleicht auch leichter, uns selbst anzunehmen – in unseren Schwächen und Stärken, unseren Fehlern und unserem Wunsch nach Vollkommenheit.
Hallo, Herr Paul, was für ein interessanter Beitrag! Habe ihn schon mehrmals gelesen.
Er ist für mich zuversichtlich, beruhigend und stärkend. Danke dafür.
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