Ohne Trauer keine Power

„Ohne Trauer keine Power” – diesen Spruch hat meine Frau Gisela Sauerland geprägt, die u.a. für die Hospizgruppe am Lukas-Krankenhaus Trauerarbeit macht. Er bringt die Erfahrung auf den Punkt, dass größere Verlusterfahrungen die Tendenz haben, uns unsere Lebensenergie zu stehlen, und dass es in der Regel das Durchleben der Trauer mit den mit ihr verbundenen meist schmerzlichen oder aufwühlenden Gefühlen ist, das uns hilft, diese Energie zurückzugewinnen.

Edward Munch, Der Schrei, undatierte Zeichnung, Kunstmuseum Bergen

Nun haben ja die meisten Menschen eine instinktive (und im Prinzip höchst gesunde!) Tendenz, Schmerz auszuweichen. Und so gehören zum großen Spektrum der „normalen” Trauerreaktionen genau auch solche, die Schmerzvermeidung zum Ziel haben. Typisch in diesem Sinne ist es, z. B., alles zu vermeiden, was mich an das Verlorene erinnert, verstärkt Alkohol oder beruhigende Medikamente zu konsumieren oder mich schnell in die Arbeit, eine neue Beziehung oder andere Aktivitäten zu stürzen.

Wie gesagt, das alles ist völlig normal und für viele Menschen eine stimmige Art, auf einen Verlust zu reagieren. Schwierig wird es dann, wenn die anderen Aspekte des Umgangs mit der Trauer zu weit in den Hintergrund treten.

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Das persönlichkeitsspezifische Credo

Es ist nun weit über dreißig Jahre her, dass ich im Rahmen meines ersten Seelsorgekurses von meinem damaligen Supervisor Klaus Winkler, Professor für praktische Theologie und Psychoanalytiker, auf das von ihm selbst geprägte Wort vom „persönlichkeitsspezifischen Credo” (vgl. Klaus Winkler, Das persönlichkeitsspezifische Credo, in: Wege zum Menschen 34 (1982) 159 – 163, 162.) aufmerksam gemacht wurde. Das damit verbundene Konzept besagt, dass unsere Persönlichkeit und unser Glauben untrennbar zusammenhängen und dass es dies nicht zu bekämpfen, sondern produktiv anzunehmen gelte.

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Der Göttinger Barfüßeraltar zeigt die 12 Apostel und ordnet jedem von ihnen einen Teil des Apostolischen Glaubensbekenntnisss zu; Foto: Jean Louis Mazieres

Sein Beispiel, an das ich mich bis heute erinnere, war dies: Es gibt Menschen, die von ihrer Persönlichkeit her Freiheit lieben und die die Enge und das Gebundensein klarer Ordnungen und Strukturen fürchten. Und es gibt andere, bei denen das genau umgekehrt ist: Sie lieben die Geborgenheit,  Beständigkeit und vor allem klare Ordnung und fürchten sich vor der Ungewissheit, der Eigenverantwortung und den Unberechenbarkeiten der Freiheit. Weiterlesen

Goldene Worte: Gleichzeitigkeit ist ein Geschenk

Noch so ein Satz eines meiner Lehrtherapeuten, der mir schon in vielen Situationen wieder in den Sinn gekommen ist: „Gleichzeitigkeit ist ein Geschenk.” Gleichzeitigkeit in einer Beziehung ist danach also etwas, über das ich mich freuen, das ich aber nicht erzwingen kann. Und das gilt nicht nur für den Sex, sondern für viele Bereiche des Lebens.

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Offensichtliche Gleichzeitigkeit: Libellen beim Liebesakt
Fotograf: Peter van der Sluijs

Was ich an dem Satz so gut finde, ist, dass er auf mich eine entspannende Wirkung hat. Wenn ich mir klarmache, dass es normal ist, dass Gefühle, Empfindungen und Wünsche nicht gleichzeitig sind, dann nimmt mir das Druck. Dann kann mich das in bestimmten Situationen vielleicht frustrieren oder traurig machen, aber es muss mich nicht ärgern, dass meine Partnerin gerade anders empfindet als ich oder ein anderes Tempo hat; und umgekehrt muss ich meine Unterschiedlichkeit auch nicht um einer vermeintlichen Harmonie willen verheimlichen.

Vielmehr kann ich dann mit ihr schauen, wie gehen wir mit der Ungleichzeitigkeit um? Wie kommen wir beide zu Glück und Befriedigung? Wer kann und will sich wie bewegen? Wer kann sich vom anderen wohin locken lassen? Und wo sind die eigenen Grenzen, die er oder sie nicht überspringen will?

Gleichzeitigkeit ist ein Geschenk. Geschenke kann man bekommen, Geschenke kann man machen, Geschenke kann man genießen. Und manchmal geht’s auch ohne sie.

Also, genießen Sie, was geht!

Die semipermeable Membran

Es ist vielleicht trivial und trotzdem hat mir dieses Bild weitergeholfen: Das Innere jeder Zelle ist ja von einer semipermeablen Membran, also einer halbdurchlässigen Schicht, umgeben. Diese nur wenige Moleküle dicke Hülle übernimmt wichtige Funktionen sowohl der Abgrenzung nach außen, sodass überhaupt eine von der Umgebung unterschiedene Innenwelt entstehen kann,  wie auch des Austausches mit der Umgebung, sodass Vorgänge wie z. B. Atmung, Ernährung, Kommunikation und die Einbindung in größere Zellverbände, aber auch bestimmte Veränderungen der Zelle selbst möglich werden. Sie hat also die Aufgabe, zu unterscheiden, was im Inneren der Zelle und was draußen bleiben soll und was die Zellmembran in welcher Menge, in welcher Geschwindigkeit und in welcher Richtung passieren kann.

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Schematischer Aufbau einer Zellmembran

Für mich symbolisiert dieses Bild ganz viel von einer der Aufgaben, die jeder Mensch, aber auch jede Institution oder Organisation jeden Tag neu zu lösen hat: In welcher Weise soll  ich mich abgrenzen? In welcher Weise soll ich mich öffnen? Weiterlesen

Goldene Sätze: „They do to you what they did to them”

„They do to you what they did to them.” – „Sie tun dir das an, was andere ihnen angetan haben”. Ich denke oft an diesen Satz aus meiner Therapieausbildung, nämlich immer dann, wenn mir Emotionen oder Verhaltensweisen entgegenkommen, die ich erst einmal (zumindest in ihrer Intensität) nicht verstehe: Misstrauen, Hass, Kontaktabbruch, eine bestimmte Form von sexualisierter Verführung, ein Versuch, mich zu kränken oder mich dazu zu bringen, mich von dieser Person zurückzuziehen.

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Manchmal drohen alte Erfahrungen alles zu verbrennen, doch manchmal lässt sich ihr Feuer nutzen, neues zu gestalten.

„They do to you what they did to them.” – Dieser Satz beschreibt eine Erfahrung vieler, die in Berufen arbeiten, in denen sie anderen auf einer tieferen Ebene helfen wollen, sich zu verändern bzw. weiterzuentwickeln. Dazu gehören (Lehr-) Therapeuten, SupervisorInnen, SeelsorgerInnen, Adoptiv- und Pflegeeltern (etwas) älterer Kinder, manchmal auch Lehrer und Erzieherinnen. Und im Übrigen trifft eine ähnliche Dynamik oft auch Liebes- und EhepartnerInnen. (Dann allerdings natürlich beidseitig!)

Es scheint die  Regel zu sein, dass Erfahrungen, die Menschen gemacht haben (und gerade auch Erfahrungen von Vernachlässigung und Gewalt), oft an die weitergegeben werden, die ihnen helfen und Neues ermöglichen wollen. Weiterlesen

„Leben als Fragment”

Seit mir die vom Marburger Theologen Henning Luther geprägte Formulierung „Leben als Fragment” (so der Titel seines Aufsatzes in der Zeitschrift Wege zum Menschen, 43. Jg. 1991, S. 262.-273) begegnet ist, beschäftigt sie mich. Aus meiner Sicht ist sie das  notwendige Gegengewicht zu allen Entwürfen von Ganzheitlichkeit.

Ganzheitliches Leben – die eigene Vervollkommnung an Körper, Geist und Seele, das Wahrnehmen der anderen in all ihren Bedürfnissen: körperlich, psychisch, sozial, emotional, spirituell – all dies hat mich und viele in meiner Umgebung lange Zeit fasziniert.

Cpa-es-bulloz-rodin5lapenseeUnd nicht zu unrecht. Der Wunsch oder die Forderung nach Ganzheitlichkeit entstand als Gegenreaktion auf viele Einseitigkeiten in unserer Gesellschaft, auf die Betonung des Körperlichen in der Medizin, des Materiellen in der Gesellschaft, der intellektuellen Leistung in der Bildung, dem Wort im evangelischen Gottesdienst usw. Angesichts dieser Verengungen weitere Dimensionen des Lebens in den Blick zu nehmen war und ist ein wichtiges Anliegen.

Aber es gibt  eben auch diese andere Seite:  Das Leben ist viel zu komplex, um es ganz begreifen und alle Dimensionen auch nur in annähernder Vollkommenheit leben zu können. Jeder Mensch wählt aus, und das ist auch sein gutes Recht.

Für mich ist da ein bezeichnendes Beispiel ein Mann um die 50, der vor einigen Jahren auf unserer Palliativstation kam. Bei ihm war ein Jahr vorher ein eher aggressiver Krebs festgestellt worden. Er hatte sich operieren lassen, dann aber auf weitere Behandlungen verzichtet. Stattdessen hatte er sein Leben genossen, was für ihn hieß, er war seinen Hobbys nachgegangen und war vor allem viel mit seiner Frau verreist. Über seine Krankheit hatte er nicht gesprochen. Als dann nach einem Jahr die Symptome sich vermehrten und er bei einer erneuten Untersuchung erfuhr, wie stark sein Tumor gewachsen war, stellte er das Reden, Essen und Trinken total ein. Daraufhin wurde er von seiner Frau auf die Palliativstation gebracht, wo er dann  innerhalb von gut zwei Wochen verstarb. Weiterlesen

Rein ist nur die gute Butter

Seit ich vor mehr als 25 Jahren in ihrem Roman „A Bleeding Heart“ den Satz von Marilyn French gelesen habe, es gäbe nichts Reines als reine Butter, lässt er mich nicht mehr los. Nicht, dass er wirklich neu wäre. Schon im Markusevangelium lehnt Jesus es ab, als „guter Meister“ bezeichnet zu werden, gut sei „Gott allein“ (Mk 10,18).

Also nicht neu, aber treffend. Wie oft erwarten wir immer noch Reinheit: reine Motive, reine Hingabe, reine Liebe? Sei es bezüglich einer Sache oder eines Menschen.

butter-400Die Wahrheit ist, jeder Mensch ist in seiner Motivation ambivalent. Das gilt für persönliche Beziehungen genauso wie für das Ehrenamt oder die Politik. Neben die Interessen, die ich an dem anderen oder der Sache habe, treten meine eigenen. Und das ist gut so. Wichtig ist, dass diese Tatsache bewusst bleibt, denn das verhindert falsche Idealisierungen und die damit automatisch verbundenen Enttäuschungen, wenn ich oder ein anderer diesem Maßstab der Reinheit nicht entspricht.

Die Frage sollte also nicht sein: Ist jemand makellos?, sondern: Diskreditieren seine Fehler oder seine Eigenmotive das, was er oder sie tut oder sagt? Weiterlesen

„Goldene“ Sätze: Störungen haben Vorrang

Ein Satz von Ruth Cohn.1 Lange habe ich ihn vor allem auf Gruppensituationen bezogen, aber im Gespräch mit meiner Frau ist mir bewusst geworden, dass er auch gut auf die Begegnung zu zweit passt.Störung

Genau genommen beinhaltet er eine Aussage und einen Rat. Die Aussage ist: Störungen beanspruchen Vorrang, weil sie unangesprochen allein durch ihre Existenz sowieso aus der jeweiligen Situation eine Menge Energie abziehen. Der Rat heißt: Es lohnt sich, dies ernst zu nehmen und Störungen bewusst anzugehen, was oft heißen kann, die Störung anzusprechen. So kann sich die Situation zumindest klären und manchmal – wie im letzten Beispiel – sogar weiter erhellen.

Sechs ganz unterschiedliche Situationen: Weiterlesen

„Goldene“ Sätze: Wer lebt, stört

Wer lebt, stört. – Klingt vielleicht trivial, ist es aber eigentlich nicht. Denn wie oft wollen wir Störungen vermeiden.

Wer lebt, stört. – Das heißt: Unser Leben ist immer auch Störung anderer. Der Stuhl, den wir besetzen, steht anderen nicht zur Verfügung; das Brot, das wir essen, nährt andere nicht; in der Zeit, in der wir reden, machen wir anderen das Reden schwer.

elefant-mausWer lebt, stört. – Dieser Umstand lässt sich nicht vermeiden. Wenn ich es dennoch versuche, hat das zwei Effekte. Erstens droht mir die Luft auszugehen. Ich nehme mir den Raum, den ich für meine Lebensaktivitäten bräuchte. Das geht zu meinen Lasten. Zweitens verstecke ich schnell meine Fähigkeiten und gebe der Welt nicht das, was ich ihr geben könnte. Das geht zu Lasten aller.

Wer lebt, stört. – Dieser Satz ist eine Einladung an alle Schüchternen, sich den Raum zu nehmen, den sie brauchen: andere im Gespräch zu unterbrechen, die eigene Meinung zu vertreten, eigene Ziele zu verfolgen, in Konkurrenz zu gehen. Er ist kein Freibrief an alle Egoisten, sich selbst absolut zu setzen und das große Ganze aus den Augen zu verlieren.

Denn auch der Satz stimmt: Alles ist mit allem (irgendwie) verbunden. Ja, das Leben lebt von Störung und Harmonie gleichermaßen. Sonst wäre es langweiliger Stillstand oder sich selbst vernichtendes Chaos.

Wer lebt, stört. – Was wir daraus machen, liegt an uns.

„Goldene“ Sätze: Schonen schadet

Ein Satz aus der Tradition der KSA, der Klinischen Seelsorgeausbildung. Kerstin Lammer zitiert ihn z.B. in ihren Tipps für die Trauerbegleitung1. Ein Satz, so wahr wie falsch, hilfreich wie gefährlich. Immer nur im richtigen Zusammenhang zu verstehen.

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David und Goliath, Maler Guido Reni, 1610

Falsch ist dieser Satz immer dann, wenn er sich auf traumatisierte Menschen bezieht.2 Falsch ist er, wenn er das Gefühl für den anderen zum Schweigen bringt. Falsch ist er, wenn er dazu dient, der eigenen Lust nach Dominanz und Aggression eine Begründung zu liefern.

Stark ist dieser Satz, wo er hilft, den Raum für die Bearbeitung von Gefühlen zu öffnen. Wo er in einem Gespräch mit Schwerkranken ermöglicht, das Schweigen zu überwinden und Ängste auszusprechen. Weiterlesen