„Ohne Trauer keine Power” – diesen Spruch hat meine Frau Gisela Sauerland geprägt, die u.a. für die Hospizgruppe am Lukas-Krankenhaus Trauerarbeit macht. Er bringt die Erfahrung auf den Punkt, dass größere Verlusterfahrungen die Tendenz haben, uns unsere Lebensenergie zu stehlen, und dass es in der Regel das Durchleben der Trauer mit den mit ihr verbundenen meist schmerzlichen oder aufwühlenden Gefühlen ist, das uns hilft, diese Energie zurückzugewinnen.

Nun haben ja die meisten Menschen eine instinktive (und im Prinzip höchst gesunde!) Tendenz, Schmerz auszuweichen. Und so gehören zum großen Spektrum der „normalen” Trauerreaktionen genau auch solche, die Schmerzvermeidung zum Ziel haben. Typisch in diesem Sinne ist es, z. B., alles zu vermeiden, was mich an das Verlorene erinnert, verstärkt Alkohol oder beruhigende Medikamente zu konsumieren oder mich schnell in die Arbeit, eine neue Beziehung oder andere Aktivitäten zu stürzen.
Wie gesagt, das alles ist völlig normal und für viele Menschen eine stimmige Art, auf einen Verlust zu reagieren. Schwierig wird es dann, wenn die anderen Aspekte des Umgangs mit der Trauer zu weit in den Hintergrund treten.
Die Trauerbegleiterin Chris Paul formuliert in ihrem lesenswerten Buch „Schuld | Macht | Sinn“ (Gütersloh 2010) in Erweiterung eines Ansatzes von William Worden sechs Traueraufgaben (S. 85):
- „Überleben
- Die Wirklichkeit des Todes und des Verlusts begreifen
- Den Trauerschmerz und die Vielfalt der Gefühle durchleben
- Sich an eine veränderte Umwelt anpassen
- Den Verstorbenen einen neuen Platz zuweisen
- Sinn geben und Bedeutung rekonstruieren.“
Ich vermute, dass das Schmerzvermeiden oft im Dienste der ersten Aufgabe steht, schlicht und einfach das Überleben zu sichern. Und darin hat es sein volles Recht. Ein Teil der oben beschriebenen Verhaltensweisen dient auch anderen Aufgaben, wie z. B. sein Leben der veränderten Umwelt anzupassen (also einer Welt, in der z. B. die Verstorbene oder mein linkes Bein fehlt). In dieser Hinsicht sind sie sehr hilfreich zur Bewältigung der Trauer, wenn z. B. Erfolge im Beruf oder eine neue Beziehung Selbstbestätigung ermöglichen oder finanzielle oder soziale Ressourcen erschließen.
Zugleich droht das innere Gebäude zerbrechlich zu bleiben, wenn nicht auch der Trauerschmerz und die Vielfalt der mit der Trauer verbundenen Gefühle ge- und erlebt werden. Diese Gefühle scheint das Gehirn zur Verarbeitung der gemachten Erfahrung zu benötigen, und oft sind sie auch mit Begreifen des Verlustes und der Aufgabe verbunden, dem Verstorbenen einen neuen Platz im Leben zuzuweisen. (Letzteres meint, dem Verstorbenen einen Platz in meiner Biografie, meiner Erinnerung zu geben als ein Mensch, der mich geprägt, mir vielleicht vieles gegeben, vielleicht auch manches genommen hat, der mir vielleicht immer wichtig bleiben wird, der aber nicht mehr lebt und z. B. meiner aktuellen Fürsorge nicht mehr bedarf und der mir umgekehrt auch nicht mehr physisch helfen kann).
Wenn dieser Teil der Trauerarbeit unterbleibt, besteht die Gefahr, dass eine Rückkehr ins Leben erst gar nicht gelingt (sich also Trauerphänomene wie der soziale Rückzug oder depressive Gefühle über Jahre unvermindert hinziehen) oder nach einer schnellen Rückkehr in die vermeintliche Normalität die jetzt nicht gelebten Gefühle sich später als besonders heftige Reaktion auf u. U. nur leichte Trauerfälle oder auch als körperliche Symptome aller Art bemerkbar machen.
Aus dieser Erkenntnis heraus scheint es sinnvoll, Trauernde darin zu unterstützen, ihre Gefühle wahrzunehmen, sie zu erleben und auszudrücken. Allerdings unter der klaren Voraussetzung, zugleich anzuerkennen, dass jeder Mensch seine Trauer anders verarbeitet und seinen eigenen Umgang mit allen sechs Traueraufgaben suchen muss, so wie es zu seiner Person passt.
Konkret könnte das für Begleitende bedeuten:
- Gerade auch ganz am Anfang Raum für auch heftige Reaktionen auf eine Todesnachricht zu lassen (und dann Beruhigungsmittel auch nur dann zu geben, wenn die Gesundheit des Trauernden dadurch wirklich in ernster Gefahr ist),
- auch später immer wieder Trauerreaktionen zu fördern, z. B. auch dadurch, dass ich eine trauernde Person zum Erzählen einlade,
- wenn ich das entsprechende Verhältnis habe, mit der trauernden Person auf die Vielzahl der Gefühle zu schauen (zum Schmerz können sich ja z. B. auch Zorn, Wut, Angst, aber auch Erleichterung u. v. m. gesellen),
- und wenn ich den Eindruck habe, jemand hängt in seiner Trauer auf Dauer fest oder die Gefühle werden ihr allein zu schwer, sie auf professionelle Angebote wie z. B. Trauerbegleitung oder auch Psychotherapie zu verweisen.
Denn wenn Gefühle durchlebt und wenn dann zugleich auch gedanklich und praktisch neue Perspektiven für das Leben gefunden werden, dann ist die Chance groß, dass nach der Trauer und durch die Trauer neue Lebenskraft zurückkehrt. Wie lange das braucht, ist extrem unterschiedlich. Da gilt es, sich und anderen Zeit zu lassen. Was zugegebenermaßen nicht immer eine leichte Aufgabe ist.