Ich bin dieser Tage auf das Buch „Queersensible Seelsorge“ von Kerstin Söderblom (Göttingen 2023) gestoßen. Söderblom ist promovierte ev. Theologin, war u. a. Gemeindepfarrerin, Studienleiterin beim Ev. Studienwerk in Villigst und arbeitet zurzeit als Hochschulpfarrerin der Ev. Studierendengemeinde in Mainz. Sie lebt seit vielen Jahren offen lesbisch und tritt in vielfacher Weise für die Rechte von LSBTIQ+-Personen ein, also von Menschen, deren sexuelles Begehren oder geschlechtliche Identität nicht auf solch eine Weise ausgeprägt ist, dass sie dem gesellschaftlich vorherrschenden Bild von Heterosexualität und Übereinstimmung von biologischer und sozialer geschlechtlicher Identität entsprechen.
In dem Buch benennt sie ihr Verständnis von Seelsorge, erinnert die (oft ja noch immer schmerzlichen) Erfahrungen von LSBTIQ+-Personen in Gesellschaft und Kirche und beschreibt in vielen anschaulichen Beispielen, wie Seelsorge im Sinne gelungener kirchlicher / christlicher Kommunikation LSBTIQ+-Personen so erreichen kann, dass ihnen geholfen wird, ihre Lebenssituation zum Positiveren zu gestalten. Ein Schwerpunkt (neben der Beschreibung der notwendigen Rahmenbedingungen queersensibler Seelsorge) ist die Auseinandersetzung mit biblischen Texten.
Dazu gehört einerseits die Einordnung von Abschnitten, die traditionell gegen schwule oder lesbisch lebende Menschen verwendet werden (S. 67ff.). Hier macht sie noch einmal klar, dass während der ganzen Zeit der Entstehung der Bibel moderne gleichgeschlechtliche Partnerschaften sozial gar nicht denkbar waren und die Bibel sich folglich damit auch gar nicht auseinandersetzt. Vielmehr greifen diese Stellen ein Verhalten an, das insgesamt dem Doppelgebot der Liebe zuwiderläuft und damit Gottes Willen widerspricht.
Schon seit Jahren spiele ich mit dem Gedanken, einmal einen Artikel darüber zu schreiben, dass ich gerne Pfarrer meiner Kirche, der Evangelischen Kirche von Westfalen, bin. Denn das bin ich nach mehr als 30 Jahren immer noch. Herausgekommen ist nun eigentlich ein Beitrag, warum ich gerne Mitglied dieser Kirche bin – trotz all der problematischen Seiten, die ich natürlich auch sehe und die mich immer wieder auch wütend oder traurig machen:
Dass meine Kirche manchmal noch immer recht bürokratisch agiert. Dass sie teil hat an allen menschlichen Schwächen. Dass es also Kolleginnen und Kollegen in ihr gibt, deren Verhalten mehr als ärgerlich ist und andere Menschen verletzt. Dass es auch in ihr sexuelle Gewalt gibt, dass sie an den Verbrechen der Kolonisierung beteiligt war, dass manche Amtsträger*innen ihre Macht missbrauchen, dass sie nicht klar genug Stellung gegen gesellschaftliches Unrecht bezieht usw.
In all dem ist auch meine Kirche einerseits ein Abbild unserer Gesellschaft und weist zugleich eigene Stärken und Fallen auf. Wobei evangelische Theologie nie behauptet hat, die Kirche sei göttlich oder rein. Schon Luther hat darauf hingewiesen, dass wir Gerechtfertigte und Sünder zugleich sind.
Dies alles vorausgesetzt, was ist es dann, was mich so mit dieser Kirche verbindet?
Druck mit einem Text Martin Luthers „Von der Freyheyt eynisz Christen menschen. Martinus Luther. Vuittembergae. Anno Domini 1520.“ Erstellt wurde die Schrift im Jahr 1520 von dem Drucker Johann Rhau-Grunenberg.
Zentral ist darin für mich, dass ich in ihr immer wieder einen Geist der Freiheit erfahren habe, und zwar einer Freiheit, die zugleich von liebender Verantwortung und einer an Werte rückgebundenen Vernunft geprägt war. Und dass diese Freiheit mit einer offenen Spiritualität verbunden war, die mich immer wieder auch jenseits der Ebene des reinen Verstandes erreicht hat. Weiterlesen →
Was würden Sie tun? Was würden Sie tun, wenn Sie nicht nur König von Deutschland wären, wie es Rio Reiser besingt, sondern Herrscher oder Herrscherin der Welt. Und zwar mit größter Weisheit, absolutem Gerechtigkeitssinn und unbegrenzter Macht. Na ja, nicht mit ganz unbegrenzter Macht. Die Naturgesetze würden schon weiterhin gelten Und sie müssten mit den Menschen zurechtkommen, die es auf dieser Erde gibt. Aber diese könnten Sie mit Ihren Gesetzen und einem loyalen Machtapparat so beeinflussen, wie Sie wollen.
Das Wappen von Lucelle auf der Kanzel von 1699 (Hugues-Jean Monnot) mit der Weltenherrscherin auf dem Kirchendach.
Was würden Sie tun angesichts des Leides in der Welt – des aktuellen und des zukünftigen, welches z. B. durch Treibhausgase, weitere Umweltverschmutzung, den Raubbau an natürlichen Ressourcen und das weitere Anwachsen der Zahl der Menschen jetzt angelegt wird?
Wie würden Sie dafür sorgen, dass alle genug zum Leben haben?
Was würden Sie den Menschen in Deutschland oder in den USA zumuten? Was an Einschränkungen beim Heizen, beim Fahren, beim Kleiden, beim Konsumieren? Und wem in diesen Ländern?
Welche Eingriffe würden Sie wem darin zumuten, dass neue technische Lösungen (wie Windkraftanlagen, Staudämme, Leitungen, Eisenbahnen etc.) den Sparzwang abmildern könnten (aber natürlich nicht ohne Auswirkungen auf die Natur und das Leben der Menschen in der Nähe dieser Anlagen)?
Gott, wie rede ich dich an? Bist du männlich oder weiblich? Bist du ein Mensch, ein anderes Wesen oder eine unpersönliche Qualität dieser Welt?
Die Bibel nennt dich Vater und König, יְהוָה und Herr, vergleicht dich mit einer Mutter, einem Vater, einem Adler.
Unsere Glaubensbekenntnisse preisen dich als Schöpfer, als Allmächtigen, sehen dich eines Wesens mit dem Menschen Jesus und verehren dich in der Form des Heiligen Geistes, des Trösters (der Trösterin?), die uns Jesus verheißen hat.
Gott, so viele alte Bilder, dazu die neueren oder wiederentdeckten: Grund unseres Seins, Quelle des Lebens, Freundin der Menschen, Licht der Welt, spielerische Weisheit …
Gott, ich glaube, alle diese Bilder haben ihr Recht, zeigen einen Teil von dir, auch wenn du uns ja im Prinzip alle Bilder verboten hast. Doch ohne Bilder können wir auch nicht von dir reden. Denn ohne Bilder bleibst du abstrakt, ungreifbar, ohne Bedeutung, leer.
Nein, von dir ohne Bilder zu reden, ergibt keinen Sinn. Von daher müssen wir Bilder finden, immer wieder neu. Aber so, dass wir um die Begrenztheit diese Bilder wissen, sie nicht verabsolutieren, sie nicht anbeten, nie vergessen, dass sie jeweils nur einen kleinen Aspekt deiner Wirklichkeit zeigen können.
So sprechen wir von dir in der Vielfalt der Bilder, suchen die, die uns berühren, aufrütteln, anrühren, und wissen, dass du sie alle übersteigst und korrigierst, wenn wir es zulassen.
Ja, groß ist die Gefahr, diese Bilder zu Götzen zu machen, das „Gott mit uns” auf den Koppeln deutscher Soldaten im 1. Weltkrieg war davon nur die offensichtlichste Form. Dieser Götzendienst geschieht immer, wo Menschen so von dir sprechen, dass du für Einzelinteressen vereinnahmt wirst und andere von deiner Liebe ausgeschlossen erscheinen. Und der Grund ist dann egal: Ganz gleich, ob wir sie wegen ihrer Herkunft, ihrer Nationalität, ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Gesundheitszustandes diskriminieren oder, weil sie einfach nur zur falschen Gruppe oder Familie gehören, wenn wir sie deiner Liebe entziehen wollen, verraten wir deinen Namen.
Gott, hilf uns zu verstehen, dass wir durch unsere Geburt erst einmal alle in gleicher Beziehung zu dir stehen, auch wenn du dich dann auf die Seite der jeweils Benachteiligten stellst. Ja, hilf uns, immer wieder passende Namen, Worte und Bilder für dich zu finden, sodass wir unser Leben besser verstehen und unseren Teil dazu beitragen, dass diese Erde für alle zu einer lebenswerten wird.
Amen.
Dieses Gebet entstand, als ich (auch in Auseinandersetzung mit meinem letzten Post „Gott – Wesen, Konzept, Aussage über die grundlegenden Eigenschaften unserer Welt?“) darüber nachdachte, wie ich angemessen von Gott reden kann, welche Bedeutung das Geschlecht hat, in dem ich von Gott spreche, und welche Bedeutung auch die anderen Bilder haben, die ich bezüglich Gott benutze.
Denn mir ist aufgefallen, dass ich in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Worte benutze. Z. B. das Wort „Herr”. Im Gottesdienst versuche ich, es möglichst zu vermeiden. Das heißt, ich verwende es nicht in frei formulierten Gebeten, ersetze es im Aaronitischen Segen durch das Wort „Gott”, schaue mir auch bei den Lesungen und Psalmen die Übersetzungen an und modifiziere z. T. den verwendeten Gottesnamen. Auch im freien Gebet mit Patient*innen vermeide ich diesen Begriff, weil ich um die problematischen Assoziationen weiß.
Ein Nachdenken im inneren Dialog mit einem Post von Antje Schrupp
Schon seit einigen Jahren folge ich dem „Blog Gott und Co“ der Journalistin und Politikwissenschaftlerin Antje Schrupp, die auch ev. Theologie studiert hat und neben ihrer freiberuflichen Tätigkeit mit einer halben Stelle als festangestellte Redakteurin der Zeitung EFO-Magazin (die Zeitung der Evangelischen Kirche in Frankfurt und Offenbach) arbeitet. In diesem Blog mit der Unterüberschrift „It’s not about her_his existence“ setzt sie sich mit Gottesbildern und ihrer Bedeutung für die Kirche und unsere Gesellschaft auseinander.
Besonders spannend fand ich den Beitrag „Schöpfung? Welche Schöpfung? Über Gott als Konzept“ (einschließlich der dann folgenden Diskussion). Dort stellt sie mit Befriedigung (und wie ich finde zu Recht) fest, dass die Vorstellung eines alten, weißen Mannes, der mit viel Hokuspokus Dinge erschafft, mit der Aufklärung ihr Ende gefunden habe. Sie schreibt dann weiter:
Die gesellschaftliche und auch innerevangelische Debatte zum assistierten Suizid hat in der letzten Zeit Fahrt aufgenommen. Vieles, was mir bei diesem Thema am Herzen liegt, steht schon in meinem grundlegenden Artikel von 2014. Aber folgende Ergänzungen sind mir in der letzten Zeit wichtig geworden:
In der Praxis habe ich ja gar nicht so viel mit der Frage nach assistiertem Suizid zu tun. Was mir jedoch häufig begegnet, ist der Wunsch zu sterben. Selten als ganz reiner Wunsch, häufig als Teil einer Ambivalenz, einerseits gerne noch leben zu wollen, andererseits aber nicht mehr unter den aktuellen oder zu erwartenden Bedingungen. Und diesen Wunsch erlebe ich nicht nur bei schlecht versorgten Patient*innen, sondern auch bei solchen, die auf unserer Palliativstation auf höchsten ärztlichen und pflegerischem Niveau behandelt werden.
Wir gehen in der Regel so auf diesen Wunsch ein, dass wir schauen, was alles getan werden kann, das Leben erträglich oder gar wieder schön zu machen, aber auch akzeptieren, dass es nicht mehr künstlich verlängert wird und dass die Ausrichtung der Therapie dementsprechend auf Leidensminderung und nicht Lebenszeitmaximierung ausgerichtet wird.
Diese Haltung ist gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und schlägt sich auch in der Möglichkeit nieder, in gesunden Zeiten einen Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen in Krisenzeiten festzulegen. Ich bin froh über diese Möglichkeit, auch wenn man viele kritische Fragen, die in Bezug auf den assistierten Suizid gestellt werden, auch hier stellen könnte: Wie frei ist die Entscheidung dieser Menschen zum Therapieabbruch wirklich? Was sind ihre Motive? Wie viel Rücksichtnahme auf Dritte oder äußerer Druck ist dabei? Wie weit können sich Menschen in gesunden Zeiten wirklich vorstellen, wie es ist, mit massiven Einschränkungen zu leben? Trotz all dieser Fragen traut man hier Menschen offensichtlich eine (zumindest relativ) freie und verantwortete Entscheidung zu, was aus meiner Sicht die Frage provoziert, was den Umgang mit dem Wunsch nach einem assistierten Suizid so fundamental davon unterscheiden sollte.
Dabei betonen sie die gute Vereinbarkeit der Wertschätzung des Individuums und seiner Freiheit mit den eigenen christlichen Wurzeln, an der auch politische Entscheidungen zu messen seien, und fahren dann fort:
„Jede und jeder Einzelne soll als Mensch in seiner eigenen, individuellen Würde in den Blick genommen werden. In dieser Hochschätzung des Individuums und seiner Selbstbestimmung gibt es keine Differenz zwischen dem Urteilstenor des Verfassungsgerichts und der Position der evangelischen Ethik. Die Selbstbestimmung anzuerkennen und zu fördern bedeutet selbstverständlich nicht, jede Handlungsweise gutzuheißen oder sich gar mit ihr zu identifizieren. Aber es bedeutet, den unterschiedlichen Formen, das eigene Leben zu gestalten, Respekt entgegenzubringen – auch wenn sich diese Gestaltung darauf bezieht, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen.”
Sie stellen dann klar, dass eine solche Haltung nicht bedeutet, jegliches Verhalten gut zu finden, sondern nur, die Person in ihrer Selbstverantwortung zu akzeptieren. Dabei setzen sie sich im Folgenden auch mit der Frage auseinander, wie frei bzw. selbstverantwortet eine Suizidentscheidung überhaupt sein könne, machen deutlich, dass sie Menschen vor äußerem Druck schützen und Lebensperspektiven (innere und äußere) erschließen wollen, und und betonen dann, dass kirchliche Vertreter*innen am meisten Vertrauen genießen könnten, wenn sie nicht vorschnell Partei ergriffen, indem sie einen assistierten Suizid als unvereinbar mit dem christlichen Glauben brandmarken würden.
Positiv entwickeln sie eine Vision einer Diakonie und Kirche, die „neben einer bestmöglichen medizinischen und pflegerischen Versorgung auch bestmögliche Rahmenbedingungen für eine Wahrung der Selbstbestimmung” bereitstellen. Dazu könnten dann nach ihren Vorstellungen auch Beratungsangebote und die Ermöglichung des assistierten Suizids gehören.
Es ist nun weit über dreißig Jahre her, dass ich im Rahmen meines ersten Seelsorgekurses von meinem damaligen Supervisor Klaus Winkler, Professor für praktische Theologie und Psychoanalytiker, auf das von ihm selbst geprägte Wort vom „persönlichkeitsspezifischen Credo” (vgl. Klaus Winkler, Das persönlichkeitsspezifische Credo, in: Wege zum Menschen 34 (1982) 159 – 163, 162.) aufmerksam gemacht wurde. Das damit verbundene Konzept besagt, dass unsere Persönlichkeit und unser Glauben untrennbar zusammenhängen und dass es dies nicht zu bekämpfen, sondern produktiv anzunehmen gelte.
Der Göttinger Barfüßeraltar zeigt die 12 Apostel und ordnet jedem von ihnen einen Teil des Apostolischen Glaubensbekenntnisss zu; Foto: Jean Louis Mazieres
Sein Beispiel, an das ich mich bis heute erinnere, war dies: Es gibt Menschen, die von ihrer Persönlichkeit her Freiheit lieben und die die Enge und das Gebundensein klarer Ordnungen und Strukturen fürchten. Und es gibt andere, bei denen das genau umgekehrt ist: Sie lieben die Geborgenheit, Beständigkeit und vor allem klare Ordnung und fürchten sich vor der Ungewissheit, der Eigenverantwortung und den Unberechenbarkeiten der Freiheit. Weiterlesen →
Die Herforder evangelische Marienkirchengemeinde Stiftberg hat mich in einem längeren Podcast zu meinem Werdegang aber vor allem zu den oben genannten Themen interviewt. Das ergab ein sehr lebendiges Gespräch zwischen dem dortigen Pfarrer Simon Hillebrecht, dem Presbyter Aike Schäfer und mir.
Ich werde manchmal gefragt, „Herr Pastor, haben Sie eigentlich Angst vor dem Sterben?.“ Meine Antwort darauf ist: „Im Moment, glaube ich, nicht wirklich; aber zeigen muss es sich dann, wenn ich in der Situation bin und davor stehe.“
Auf einer anderen Ebene geht es mir auch so mit der augenblicklichen Situation. So unerwartet sie auch für mich kam, sie ändert eigentlich nicht meinen Blick auf die Welt. Dass jedes Leben und jede Gemeinschaft bedroht und zerbrechlich ist, weiß ich spätestens seit dem frühen Tod meines Vaters und, seitdem mir von Auschwitz und vom Zweiten Weltkrieg erzählt wurde. Und die Kriege in Jugoslawien, der Tsunami 2004 und tausend Schicksale hier im Krankenhaus haben mich immer wieder daran erinnert.
Knospe der Nashi-Birne im Corona-Frühling; eigene Fotografie
Schau ich mir die Bibel an, dann sind das allerdings ganz und gar keine neuen Erfahrungen, sondern spiegeln in gewisser Weise das Zentrum christlichen Glaubens wider. Denn der Begründer unserer Religion ist eben kein erfolgreicher Kriegsheld, sondern am Kreuz zu Tode gefoltert worden. Allerdings – und das ist dann die andere Seite unseres Glaubens – eben nicht im Tod geblieben.
Was heißt das nun für mich in Corona-Zeiten? Weiterlesen →