Gedanken zum Umgang mit Schuldfragen in Auseinandersetzung mit dem Ansatz von Chris Paul
Kennen Sie auch solche Situationen? Da stirbt eine erwachsene Frau bei einem Kanuunfall und ihre Mutter macht sich Schuldvorwürfe, dass sie diese nicht von diesem Sport abgehalten hat, obwohl sie wusste, dass ihre Tochter ihn immer sehr gefahrenbewusst praktiziert hat. Da erhebt ein Mann nach dem Krebstod seiner Frau heftige Vorwürfe gegen Ärzte und Pflegepersonal, obwohl Sie selbst den Eindruck haben, dass diese sich gar nicht so falsch verhalten haben. Da suchen Eltern nach ihrer Schuld, weil ihr Sohn psychisch krank geworden ist. Da leidet ein alter Mann noch heute an den Dingen, an denen er im Krieg beteiligt war. Da hat eine Tochter massive Schuldgefühle, weil sie ihre Mutter zwar liebevoll gepflegt hat, aber bei ihrem Tod nicht dabei war.
In der Seelsorge, der Hospiz- und Trauerbegleitung ist Schuld ein genauso brennendes Thema wie nach Notfällen oder in der Therapie. Schuld ist etwas, das jede und jeden betrifft und das ganz schnell viele Gefühle freisetzt – auch bei der Begleitperson. Da entsteht schnell ein Sog zur Parteinahme, dazu, Verurteilungen zu teilen oder Schuld ausreden zu wollen. Wobei die Resultate dieser Aktionen oft wenig hilfreich sind.

Jesus: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34) – Bild: Die Kreuzigung Jesu Christi, Illustration aus dem Hortus Deliciarum der Herrad von Landsberg (12. Jahrhundert) Fotograf: Dnalor_01
Mir hat zum Verständnis dieser Dynamik das 2010 im Gütersloher Verlagshaus erschienene Buch der Trauerbegleiterin Chris Paul „Schuld | Macht | Sinn“ geholfen, die darin folgende Thesen formuliert:
- (und das ist ihre Grundannahme) Schuld sei ein Deutungsmuster. Damit grenzt sie sich gegen die Vorstellung einer „realen“ Schuld unabhängig vom subjektiven Bewertungssystem ab. Als Konsequenz aus dieser Annahme wird die Unterscheidung von echter Schuld und Schuldgefühlen unsinnig.
- Schuld könne als (innere) Konstruktion aus zwei Bestandteilen verstanden werden: aus einem Regelwerk und einem Bestrafungs- oder Bußkatalog. Beide Bestandteile dieser Konstruktion seien zwar gesellschaftlich geprägt, aber letztlich individuell. Wenn man daran arbeiten wolle, müsse man sie also in jedem Einzelfall kennenlernen.
- Typische Straf- oder Bußmaßnahmen seien: Vergeltung von Gleichem mit Gleichem, Vergeltung von Gleichem mit anderem Schlechten und Wiedergutmachung.
- Dieser Mechanismus aus wahrgenommener Regelverletzung und (Selbst-) Bestrafung werde durch die unterschiedlichsten Zusammenhänge in Gang gesetzt, sowohl bezüglich eigener Taten wie Taten von Fremden. Sein inneres Ziel sei das Sühnen der Schuld, verstanden als die Herstellung eines jeweils stimmigen Gleichgewichts der Gerechtigkeit.
- Wichtig sei, sich bewusst zu machen, dass dieser Schuldmechanismus voller Energie steckt. So provoziere er bei allen Beteiligten, auch beim Beobachter, viele Reaktionen wie Gefühle, Bewertungen, Handlungen etc. Häufig komme es auch zu Schuldverschiebungen (also dass zuerst der eine, dann der andere und dann eine dritte beschuldigt werden) bis dahin, dass der Eindruck entstehe, da sei Schuld im Raum, die einfach nur ein Objekt suche, an dass sie sich heften könne (vagabundierende Schuld).
- Eine für die Begleitung von Menschen, die mit Schuld zu tun haben, zentrale Unterscheidung sei die von normativer und instrumenteller Schuldzuweisung. Bei der normativen Schuldzuweisung komme die Hauptenergie des Schuldmechanismus aus der Verletzung von (inneren oder äußeren) Regeln, bei der instrumentellen Schuldzuweisung aus anderen Quellen. Sie diene dann z. B. zur Herstellung von Erklärungen, zur Herstellung eines subjektiven Gefühls der Handlungsfähigkeit, zur Herstellung innerer Verbundenheit, als Ventil bei akuter Überforderung, als Platzhalter für andere als unerträglich empfundenen Gefühle oder Gedanken oder präge als Lebensmuster das gesamte Lebensverständnis und Lebensgefühl dieses Menschen.