An vielen Stellen lese ich, eine Handlungsmaxime sei biblisch begründet. Ich tue mich schwer damit. Schon angesichts sich diametral widersprechender Positionen, die diese biblische Begründung für sich in Anspruch nehmen, wie z.B.
- die Verurteilung homosexueller Praktiken oder das Eintreten für gleiche Rechte unabhängig von der sexuellen Orientierung,
- ein strikter Pazifismus oder eine Theologie der Revolution, die Rechtfertigung der Selbstverteidigung oder die sogenannten „Responsibility to Protect“,
- die Ablehnung oder die Forderung nach Todesstrafe usw.
Aus meiner Sicht hat die Unterschiedlichkeit dieser Positionen verschiedene Ursachen: Zum einen gibt es innerhalb der Bibel ethisch sehr unterschiedliche Auffassungen (man vgl. z.B. das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,44) mit der Aufforderung zum erbarmungslosen Niedermachen der Gegenseite (1. Sam 15)). Zum anderen war die Lebenssituation damals eine solch andere, dass viele heutige Fragen überhaupt nicht berührt wurden und jede Übertragung von damaligen Urteilen auf heutige Situationen mehrdeutig bleibt.

Mose steigt mit den Gesetzestafeln den Sinai hinab (eine Seite der Alba-Bibel)
Wie kann ich nun unter diesen Umständen als Christ Ethik begründen? Ich schlage ein zweistufiges Verfahren vor – mit einer ersten biblischen Stufe und einer zweiten, die natur- und humanwissenschaftliche Erkenntnisse und Vernunft verlangt.
Die erste Stufe geht den Weg mit, den Jesus in der Auseinandersetzung mit den Theologen seiner Zeit gegangen ist. Stichworte sind die Aussagen, dass das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe das „höchste Gebot“ (Mt 22,37ff) sei (aufgegriffen auch von Paulus z.B. in Röm, 13,8: denn „wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt“) und sein Umgang mit dem Sabbatgebot, der in dem Satz gipfelt: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ (Mk 2,27)
Ich verstehe das so, dass es immer um das Wohl der Menschen gehen soll – und zwar letztlich um das Wohl aller Menschen unabhängig davon, wie nah oder fern mir diese sind. Dafür steht für mich das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,30ff), das deutlich macht, dass die Bestimmung, wer mir nahe ist, eben nicht eine von außen vorgegebene Größe ist, sondern von meiner Entscheidung abhängt, einen anderen Menschen als mir nahe zu betrachten. Der Aufruf, auch meine Feinde zu lieben (Mit 5,43) spitzt dies noch einmal zu.
Bei all dem ist zu berücksichtigen, dass „Liebe“ (im Sinne von Agape) nicht ein Gefühl meint, sondern eine Einstellung und ein Handeln zum Wohle andere. Die Selbstliebe wird dabei zwar nicht gefordert, aber an mehreren Stellen (3. Mose 19,18, zitiert z.B. Mk 12,31 und Röm 13,9) in gesunder Weise vorausgesetzt.
Aus meiner Sicht ist dies eine sichere biblische Basis für alle ethischen Überlegungen, die zumindest von den meisten neutestamentlichen Büchern getragen wird. Für viele konkrete Entscheidungen reicht diese Basis allerdings nicht aus. Oft steht ja das Wohl des einen gegen das Wohl der anderen. Und genauso oft wissen wir gar nicht, was die tatsächlichen Folgen einer Entscheidung sind und wie sie sich auf das Wohlergehen eines Menschen, der Gesellschaft und der Erde insgesamt auswirken.
Hier ist nun empirische Forschung gefordert und das Wahrnehmen der Realität. Und in Zusammenhang damit (und auch unabhängig davon) der engagierte Diskurs. Ein Diskurs, der zwar ethische Dilemmata nicht wegredet und andere wegen ihrer abweichenden Einschätzungen und Schwerpunktsetzungen nicht verteufelt, der aber auch nicht in die Beliebigkeit abgleitet, sondern immer wieder ernsthaft fragt, wie das Gebot der Nächstenliebe zu verwirklichen ist.
Kann die Bibel auch da noch helfen? Bei der einen oder anderen Fragestellung können die Erfahrungen, die ihr ihren Niederschlag gefunden haben, das Nachdenken sicherlich fördern. Doch – wie schon oben skizziert – in vielen Situation folgen aus der Bibel keine eindeutige Handlungsanweisungen, und die Praxis vieler, einzelne Stellen oder Sätze herauszugreifen und sie als Argument in der Diskussion zu benutzen, ist in der Regel nicht sachgerecht.
Ich sehe die Chance der Bibel an ganz anderer Stelle. Sie kann mich stärken und dazu inspirieren, das, was ich als richtig erkannt habe, auch zu tun, und da, wo ich scheitere, nicht aufzugeben. (Zumindest) protestantische Grundüberzeugung ist doch, dass sie mir deutlich macht, dass mein Wert nicht an meinen Taten hängt, sondern eine von Gott von Anbeginn her gegebene Größe ist.
Da, wo Menschen das tief in ihrem Inneren begreifen, entsteht Kraft und Antrieb, sich in innerer Freiheit immer wieder auch für andere einzusetzen. Und trotz aller Grausamkeiten, die auch von Christen ausgegangen sind, liegt darin ein wichtiger biblischer Beitrag für unsere Welt.
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