In der letzten Zeit ist immer wieder von einem „postfaktischen Zeitalter“ die Rede, und das Wort „postfaktisch“ wurde ja auch zum Wort des Jahres 2016 gewählt (vgl. http://gfds.de/wort-des-jahres-2016/). Ich empfehle da Vorsicht.
Wenn dieser Begriff rein beschreibend die Tatsache aufgreift, dass es im Moment auch in den westlichen Demokratien mehr PolitikerInnen gibt, die sich wie Donald Trump offen nicht darum kümmern, ob ihre Behauptungen wahr sind und damit einen mehr oder weniger großen Erfolg haben, dann hat dieser Gebrauch eine gewisse Berechtigung.

Pinocchio – von Enrico Mazzanti (1852-1910)
Trotzdem möchte ich davor warnen, weil der Begriff „Zeitalter“ aus meiner Sicht suggeriert, dass die, denen die Fakten egal sind, damit Recht hätten (was eine moralische Beurteilung ist, die ich in keiner Weise teile) und damit zugleich so viel Erfolg hätten, dass sie ein ganzes Zeitalter prägen könnten (was zwar nicht auszuschließen, aber eben noch sehr offen ist). Außerdem legt der Begriff auch noch nahe, dass das Absehen von Fakten (also die öffentliche Lüge) etwas Neues sei.
Aber natürlich hat es zu allen Zeiten Versuche der Herrschenden (und nicht nur von ihnen!) gegeben, die Darstellung der Welt im eigenen Sinn zu beeinflussen. Nicht umsonst ist eine Schlüsselszene im George Orwells „1984“ das Verlangen an den Protagonisten, zu akzeptieren, dass 2+2 5 sei, wenn die Partei das behaupte. Und schon im August 1990, dem Beginn des Zweiten Golfkriegs, spielte die Lüge, dass irakische Soldaten bei der Invasion Kuwaits kuwaitische Frühgeborene getötet hätten, indem sie diese aus ihren Brutkästen gerissen hätten dann und auf dem Boden hätten sterben lassen (vgl.https://de.wikipedia.org/wiki/Brutkastenl%C3%BCge) , eine wichtige Rolle, um diesen Krieg in den USA zu legitimieren.
Es ist richtig, dass sich die Bedingungen der Kommunikation wieder einmal verändert haben. Das Internet hat durch die leichte Zugänglichkeit von Kommunikationskanälen erst einmal eine Demokratisierung gebracht, die demokratische Bewegungen nutzen konnten. Aber natürlich haben dies die Mächtigen in Regierungen und Wirtschaft erkannt und setzen ihre Mittel ein, um auch diesen Kommunikationsraum, so weit es ihnen möglich ist, zu beherrschen
Von daher stehen wir als Menschen immer wieder vor derselben dreifachen Aufgabe
- unsere Vernunft zu nutzen und zu prüfen, was uns an Fakten einleuchtet und was nicht und wo wir weiter nachforschen wollen (und dabei zu unterscheiden, was Fakten sind, was Lügen, und was Prognosen, die mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit eintreten können),
- unser Gewissen zu nutzen und das, was wir als Fakten erkannt haben, zu bewerten, und festzuhalten, ob wir uns dafür oder dagegen einsetzen wollen und das mit welcher Dringlichkeit, und schließlich
- unser gesamtes Menschsein zu nutzen, uns von dem, was wir für uns als wahr erkannt haben, nicht abbringen zu lassen, sondern im Rahmen unserer Möglichkeiten danach zu leben.
Dieses Programm mag naiv klingen und ich bin mir auch bewusst, dass jede Wahrnehmung von Fakten (nicht aber die Fakten selbst!) immer auch von uns als wahrnehmenden Menschen abhängt. Trotzdem glaube ich, dass es sich lohnt, die Auseinandersetzung um die Wahrheit auch von Fakten nicht einfach kampflos aufzugeben, sondern zumindest mit den Gutwilligen (also denen, die auch ein Interesse haben, die Wahrheit zu ergründen) gemeinsam nach den Fakten zu suchen und den Böswilligen (also denen, die bewusst manipulieren wollen) die eigene Erkenntnis entgegenzuhalten.
Und auch auf der zweiten Ebene, der Ebene der Werte, lohnt sich für mich ein Dialog, auch wenn es da besonders schmerzlich sein kann, nicht zu einer gemeinsamen Basis zu finden. Hier stellt sich immer wieder neu die Frage, wie viele Unterschiede eine Gruppe, eine Gesellschaft, ein Staat, die Welt als ganzes aushalten kann und mit welchen Machtmitteln entschieden werden kann oder entschieden werden soll, wie bei unüberbrückbaren Bewertungen gehandelt werden soll. Dabei ist die Abgrenzung zwischen der Freiheit einerseits und dem Schutz der Freiheit und der anderen Menschenrechte andererseits sicher einen eigenen Artikel wert.
Für mich als Christen ist dies alles auch eine Explikation des Satzes des Evangelisten Johannes, der Jesus sagen lässt: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8,32)
Der Begriff „Wahrheit“ in diesem Satz meint sicher mehr als Faktizität, aber eben auch nicht weniger. Und es hat mich sehr berührt, dass schon vor fünfundzwanzig Jahren ein Muslim sich diesen Satz als Trauspruch bei seiner Heirat mit einer evangelischen Frau wählte.
Zumindest mir hilft er, in all den Verwirrspielen der Mächtigen meine innere Orientierung zu behalten, und so meinen Beitrag dazu zu leisten, dass Wahrheit und Menschlichkeit in dieser Welt eine Chance haben.
Anmerkung: Zur Diskussion um den Begriff „postfaktisch“ finde ich auch den folgenden Wikipedia-Beitrag in der Fassung vom 8. Juni 2017 sehr lesenswert und erhellend: https://de.wikipedia.org/wiki/Postfaktische_Politik