Immer wieder erzählen mir Menschen von ihrer Überzeugung, Gott würde sie führen. Er sei es, der auswähle, welche Erfahrungen sie (und auch andere Menschen) zu machen hätten. Das hätten sie schon oft in ihrem Leben erlebt.
Bei guten Erfahrungen sind diese Menschen dafür oft dankbar und haben ein großes Vertrauen in die Zukunft. Bei harten Erfahrungen, zum Beispiel einer schweren Erkrankung in jungen Jahren oder dem Verlust eines Kindes, sind die Reaktionen oft zwiegespalten:
Zum einen sind da Zweifel, Zorn oder Auflehnung, weil sie dann doch nicht annehmen wollen, dass Gott für so etwas Hartes (mit-) verantwortlich sei. Zum anderen gibt es auch einen Trost, der in der Überzeugung ruht, dass es ja Gott sei, der sie in diese schwierige Situation geführt habe, und dass, weil Gott ja gut ist, darin doch auch etwas Gutes liegen müsse, ein Sinn, der sich vielleicht erst später ergeben würde.
Andere gehen diesen letzten Schritt nicht mit. Für sie führt so eine Erfahrung zu einer echten Glaubenskrise, etwa zu dem Schluss, einen Gott, der so böse ist, könne es nicht geben.
Ich selber teile das Entsetzen über das Leiden in dieser Welt. Für mich resultiert daraus allerdings keine Frage nach der Existenz Gottes. Dazu finde ich zu viel Auseinandersetzung mit dem Leiden auch in der Bibel selbst. Sehr wohl aber stärken diese Erfahrungen meinen Zweifel daran, dass Gott jemand ist, der uns führt und uns (und anderen!) die Ereignisse unseres Lebens zuweist (ganz egal, ob nun dadurch, dass er sie veranlasst oder auch nur gezielt zulässt).
Wenn ich mir mit offenen Augen und einem offenen Herz die Welt anschaue, finde ich solch eine Vorstellung nicht haltbar. Nicht nur in der Verteilung von Krankheiten kann ich keinen Sinn und keine Gerechtigkeit erkennen (da könnte man ja noch postulieren, die Gerechtigkeit sei da und mein Verstand sei nur zu begrenzt, sie zu erfassen). Doch es sind die Großereignisse – von Menschen gemacht oder primär Folge natürlicher Vorgänge – die die Annahme, jemand habe deren Folge gezielt einzelnen Menschen zugeteilt, absurd erscheinen lassen: schwere Erdbeben (berüchtigt wurde das von Lissabon 1755), Auschwitz, die Massenvergewaltigungen in Jugoslawien im Rahmen des Bürgerkriegs, der Völkermord in Ruanda, der Tsunami 2003. So viele und so unterschiedliche Menschen – moralisch gute und böse, junge und alte – waren in gleicher Weise davon betroffen, so dass es für mich schlicht nicht vorstellbar ist, anzunehmen, dass darin eine sinnvolle Auswahl liegen könnte.
Aber wo ist Gott denn dann in solchen Situationen (und dann wohl auch im Rest meines Lebens)?
Aus meiner Sicht ist Gott eine Kraft, die mich hält, ganz egal, was auch passiert. Eine Kraft, die ich versuchen kann zu spüren und die mir dann die Stärke und den Mut gibt, nicht zu verzweifeln, sondern (solange ich noch eine Möglichkeit habe) aus jeder Situation das (relativ) Beste zu machen.
Und das gilt, solange ich lebe, auch für schwerste Situationen. Es gibt oft gute Gründe für Angst, Verzweiflung und Depression, aber es gibt dazu keine moralische Verpflichtung.
Im Gespräch mit anderen merke ich, wenn es mir gelingt, in solchen Situationen Gott als eine Kraft zu spüren, die Gutes für mich und diese Welt will, dann kann das meine Handlungsmöglichkeiten (etwas) erweitern, manchmal (aber keineswegs immer) so viel, dass sich die Situation grundlegend ändert. Dann wird auf einmal eine Krankheit überwunden oder jemand wird auch im KZ noch zu einem Halt für seine Mithäftlinge.
Gedankliche Voraussetzung für solch eine Vorstellung von Gottes Wirksamkeit (und natürlich auch christlicher Glaube!), ist wohl die Überzeugung, dass auch der Tod nichts ist, was unser Ja zu dieser Welt und diesem Leben hindern müsste (welche Vorstellung wir auch immer haben, was im Sterben im Einzelnen passiert). Mit ihm müssen wir als Gewissheit rechnen, und von daher muss jedes Glaubenskonzept auch seine Realität mit einbeziehen.
Dass wir einen solchen Glauben entwickeln, ist nicht machbar, sondern ein Geschenk. Für manche entsteht er aus der mystischen Erfahrung der Verbundenheit oder des Einsseins mit allem, was ist. Bei anderen hat er andere Quellen.
Ausdruck findet er für mich z. B. in den Worten des 23. Psalms: „Und ob ich schon wanderte im finstren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ Hier wird die Finsternis nicht geleugnet, aber ihr Schrecken wird begrenzt und Vertrauen in Gott und damit Vertrauen ins Leben ausgedrückt.
Dass in diesem Zusammenhang wieder Anthromorphismen auftauchen, also Worte wie „Geschenk“ (was ja eine Schenkerin oder einen Schenker nahelegt) und „du“, ist nicht zufällig. Es hat mit unserer Psyche zu tun, die dazu tendiert, Wichtiges Personen zuzuschreiben. Aber das ist ein anderes Thema, was an anderer Stelle bedacht werden soll.