Schon seit Jahren spiele ich mit dem Gedanken, einmal einen Artikel darüber zu schreiben, dass ich gerne Pfarrer meiner Kirche, der Evangelischen Kirche von Westfalen, bin. Denn das bin ich nach mehr als 30 Jahren immer noch. Herausgekommen ist nun eigentlich ein Beitrag, warum ich gerne Mitglied dieser Kirche bin – trotz all der problematischen Seiten, die ich natürlich auch sehe und die mich immer wieder auch wütend oder traurig machen:
Dass meine Kirche manchmal noch immer recht bürokratisch agiert. Dass sie teil hat an allen menschlichen Schwächen. Dass es also Kolleginnen und Kollegen in ihr gibt, deren Verhalten mehr als ärgerlich ist und andere Menschen verletzt. Dass es auch in ihr sexuelle Gewalt gibt, dass sie an den Verbrechen der Kolonisierung beteiligt war, dass manche Amtsträger*innen ihre Macht missbrauchen, dass sie nicht klar genug Stellung gegen gesellschaftliches Unrecht bezieht usw.
In all dem ist auch meine Kirche einerseits ein Abbild unserer Gesellschaft und weist zugleich eigene Stärken und Fallen auf. Wobei evangelische Theologie nie behauptet hat, die Kirche sei göttlich oder rein. Schon Luther hat darauf hingewiesen, dass wir Gerechtfertigte und Sünder zugleich sind.
Dies alles vorausgesetzt, was ist es dann, was mich so mit dieser Kirche verbindet?

Druck mit einem Text Martin Luthers „Von der Freyheyt eynisz Christen menschen. Martinus Luther. Vuittembergae. Anno Domini 1520.“ Erstellt wurde die Schrift im Jahr 1520 von dem Drucker Johann Rhau-Grunenberg.
Zentral ist darin für mich, dass ich in ihr immer wieder einen Geist der Freiheit erfahren habe, und zwar einer Freiheit, die zugleich von liebender Verantwortung und einer an Werte rückgebundenen Vernunft geprägt war. Und dass diese Freiheit mit einer offenen Spiritualität verbunden war, die mich immer wieder auch jenseits der Ebene des reinen Verstandes erreicht hat.Ich selbst war immer ein Suchender und Fragender. Mich haben immer die Naturwissenschaften interessiert, besonders auch die Physik. Ich habe nie akzeptiert, etwas glauben zu sollen nur, weil es in irgendeiner mehr oder weniger heiligen Schrift steht oder eine Autoritätsperson es behauptet. Und ich hatte das Glück, schon als Konfirmand auf einen Pfarrer und eine Kindergottesdienstmitarbeiterin zu treffen, die diese Fragen ernstnahmen und ehrliche Antworten darauf gaben, die sich mit dem Denken verbinden ließen. Sie verkörperten eine Geisteshaltung, die ich dann später auch im Religionsunterricht der Oberstufe und an der Uni wiederfand.
Es ist eine Haltung, die um die Grenzen aller Erkenntnis weiß, die alle Aussagen als Versuche sieht, das, was sich niemals vollständig erkennen lässt, in Ansätzen zu beschreiben. Und das gilt sowohl für die Bibel, die Zeugnisse der Glaubensvorstellungen der Menschen der jeweiligen Jahrhunderte abbildet, wie auch für die Naturwissenschaften, die immer wieder Modelle der Wirklichkeit entwirft, die so lange gelten (und z.B. in der Technik und Medizin gute Dienste tun), bis sie durch neuere präzisere Modelle abgelöst werden (wie z.B. die Newton’sche Mechanik durch die Relativitätstheorie und die Quantenphysik).
Bei dieser Suche mitzusuchen, mitzudenken, mitzureden – das war für mich immer wieder schön und herausfordernd. Und ich halte solche Räume auch für unsere Gesellschaft nach wie vor für wichtig – sowohl um jede Art von (z.B. biblizistischem oder anderem religiösen) Fundamentalismus abzuwehren wie auch um ein Weltverständnis zu vermeiden, das dadurch in die Irre führt, dass es bestimmte augenblickliche naturwissenschaftliche Erkenntnisse für eine absolute Wahrheit hielte, die die Welt vollständig beschriebe.
Eine zweite Erfahrung, die mich seit meiner Jugend mit dieser Kirche verbindet, war die von Gemeinschaft, und zwar von Gemeinschaft, die von verschiedenen Elementen geprägt war:
- der Auseinandersetzung mit persönlichen, gesellschaftlichen, religiösen oder politischen Themen,
- dem konkreten Tun (z.B. der gemeinsamen Gestaltung von Gottesdiensten, Aktionen für den Frieden, der Arbeit mit Kindern etc.),
- dem achtsamen Umgang miteinander auf der Basis einer grundsätzlichen Akzeptanz ganz unterschiedlicher Menschen mit ganz unterschiedlichen Schwächen und Fähigkeiten.
Dies alles hat mir und vielen anderen Wachstumsmöglichkeiten und Sinnerfahrungen eröffnet, und so halte ich entsprechende Angebote auch heute noch für existenziell wichtig.
Natürlich lassen sich vergleichbare Erfahrungen prinzipiell auch in anderen Organisationen machen. Die Chance von Kirche sehe ich darin, dass sie einerseits weniger zielgerichtet ist als viele andere (und damit weniger in der Gefahr steht, die einzelnen Menschen für das jeweilige Ziel zu instrumentalisieren) und andererseits im Evangelium (und auch in der Tradition von dessen Auslegung) ein Korrektiv hat, das sie dazu anhält, immer wieder ihr eigenes Agieren zu überprüfen und damit Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Dass diese Korrekturen nicht automatisch passieren, ist offensichtlich. Die Bibel, die Glaubensbekenntnisse, auch Luthers Schriften z.B., sind alle zeit- und situationsgeprägt und enthalten natürlich Inhalte, die sich auch gegen Gottes Botschaft eines liebenden Gottes, der die Menschen zu einer verantworteten Freiheit befähigt (als dessen vollmächtige „Kinder“ im Gegensatz zu Sklav*innen“, vgl. z.B. Gal 4,7), verwenden lassen. Und als große und weitgehend demokratisch aufgebaute gesellschaftliche Organisation ist sie immer auch von gesamtgesellschaftlichen Strömungen mitgeprägt. Und, wie schon oben angemerkt, gibt es natürlich auch in ihr Menschen, die versagen, die persönlich moralisch falsch handeln oder sich bei guten Absichten in ihren Entscheidungen irren.
Aber es gibt da eben auch die Geschichten, die von der Geschöpflichkeit des Menschen und seiner Verantwortung sprechen, die Geschichten der Befreiung, die breite Tradition der Propheten, die soziale Verantwortung einfordern, sowie das Leben und Lehren Jesu, das von einem liebenden und zu liebevolle Handeln befreienden Gott Zeugnis ablegt.
Es gibt die zentrale Erkenntnis von Paulus und der Reformation, die unter dem Stichwort „Rechtfertigung des Sünders“ reflektiert, dass es nicht darum gehen kann und muss, perfekte Supermenschen zu produzieren, sondern Menschen zu vermitteln, dass sie so wie sie sind, von Gott angenommen sind (also erst einmal jedes Lebensrecht haben), und sie auf dieser Basis zu befähigen, Gutes zu tun. Es gibt die Erfahrungen christlicher Mystik, in der deutlich wird, dass alles Reden von Gott an Grenzen kommt und alle Namen Gottes ihre absolute Bedeutung verlieren. Es gibt eine Theologie als Wissenschaft, die immer wieder sich darum bemüht, auf dem Diskussionsniveau der jeweiligen Zeit die alten Inhalte zu durchdenken und die alten Schriften in ihren historischen Entstehungszusammenhängen zu verstehen. Und es gibt viele, viele Menschen, die sich in Gemeinden, Gruppen, Familien, Initiativen und Organisationen engagieren und ihren (dann ja sehr unterschiedlich akzentuierten!) Glauben leben, weitertragen und damit auf verschiedene Weise an verschiedenen Orten Gutes tun.
All das ist mir immer noch sehr wertvoll. All das möchte ich nicht missen. Ja, ich glaube fest, dass eine Welt oder ein Deutschland ohne diese (oder eine vergleichbare) Kirche ärmer wäre und so z.B. eher der Gefahr unterliegen könnte, in einem reinen Zweckdenken, dem es nur noch um persönlichen oder wirtschaftlichen Erfolg geht, aufzugehen. Und so freue ich mich, diese Kirche auch weiterhin mitgestalten zu können.